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Roma-Familien aus dem Görlitzer Park: Neue Bleibe, letzte Chance

Geschrei im Haus, Autorennen auf der Straße, bis zu 30 Personen in einer Wohnung. Drei Roma-Familien wurde deshalb gekündigt. Vier Wochen campierten sie im Park. Jetzt haben einige eine neue Bleibe – und eine letzte Chance.

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Decebal will um nichts in der Welt fotografiert werden. Der 14-Jährige zieht sich die Kapuze seines Shirts über das Gesicht. Bisher hat er in seiner Weddinger Schule mehr oder weniger geheim halten können, dass er zu den rumänischen Familien gehört, die seit vier Wochen im Görlitzer Park campieren. Das soll auch so bleiben.

Vor allem, da zumindest Decebals Familie am Mittwoch eine neue Bleibe in Mariendorf bekommen hat. Seine Mutter Maria D. (die Namen aller Roma wurden auf Bitten der Betreuer geändert) hat schon morgens ihre Habseligkeiten – Pappbecher, Teller, Handtücher – in Kartons gepackt. Jetzt sitzt sie auf einer der dicken Matratzen unter einem Vordach gleich neben dem Café Edelweiß. „Herr Thinius ist ein guter Mensch“, sagt sie immer wieder.

Der „gute Mensch“ Lutz Thinius ist mit einem weißen Lieferwagen im Park vorgefahren. „Humanitas-Hilfe e.V., Kinder- und Jugendhilfe, Wohnprojekte für Wohnungslose“ steht darauf. Thinius hat Maria D. und zwei anderen Roma-Familien vor vier Wochen ihre Wohnungen in der Genthiner Straße in Tiergarten gekündigt, nachdem sich andere Mieter über unzumutbare hygienische Zustände und unerträglichen Lärm beschwert hatten.

Die Familie D. habe das ein wenig zu Unrecht getroffen, sagt Thinius nun. „Sie hat immer pünktlich ihre Miete bezahlt und nur die falschen Leute in ihre Wohnung gelassen.“ Dann bittet der Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins Humanitas die rumänische Generalkonsulin Constanta Georgescu, der Familie zu übersetzen, dass dies in der neuen Wohnung, in die er sie jetzt bringt, nicht mehr passieren darf. „Das ist eure letzte Chance“, sagt er, „wenn ihr euch dort nicht ordentlich benehmt, kann auch ich nicht mehr helfen. Aber ihr könnt euch integrieren, weil im Umfeld alles stimmt.“

Das Umfeld sei in der Genthiner Straße nicht falsch gewesen, sagt Sabina Kuzmanovic, die dort seit acht Jahren lebt. Als die rumänischen Familien im April 2010 einzogen, seien sie ohne Vorbehalte aufgenommen worden, meint die Serbin. Sie ist 64 Jahre alt, kam 1970 mit ihrem Mann als Gastarbeiterin nach Deutschland. Vor der Haustür hat sie einen kleinen Garten angelegt, sie kennt die ganze Nachbarschaft und fährt zweimal im Jahr zu den Kindern und Enkeln nach Serbien.

Seitdem die Roma-Familien eingezogen waren, hat die kleine, agile Frau mit den rötlich gefärbten Haaren allerdings nicht mehr gewagt, die Wohnung für längere Zeit zu verlassen. Jede Nacht habe es Geschrei und Autorennen auf der Straße gegeben, sagt sie. Mehr als 30 Personen schliefen oft in einer Drei-Zimmer-Wohnung, der Gestank der ständig verstopften Toiletten sei unerträglich gewesen.

Noch heute schrubbt Sabina Kuzmanovic jeden Tag das Treppenhaus mit Sagrotan, aber aus der Nase kriegt sie den Geruch immer noch nicht. Manche würden sie als „antiziganistisch“ oder gar „rassistisch“ bezeichnen, erzählt sie. Dabei hatte sie den Familien anfangs geholfen, wo sie nur konnte. „Mama“ haben die Roma sie genannt und mehrmals am Tag geklingelt, um Zwiebeln, Salz oder Schmerztabletten zu borgen. Sie hat den Kindern Bücher geschenkt und den Müttern gesagt, dass sie hier kostenlos Deutsch lernen könnten. Aber es wurde schlimmer. Alle paar Tage wurde auch ihre Wohnung wegen der verstopften Toiletten nebenan überschwemmt.

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Manche Anwohner fühlten sich bedroht

Andere Anwohner fühlten sich sogar bedroht. „Wir haben manchmal fünfmal am Abend die Polizei gerufen“, sagt Gerhard Rüdiger, der in der Genthiner Straße 1 gegenüber wohnt. „Viele Roma waren zunächst freundlich, aber das änderte sich natürlich, als wir uns an die Polizei wandten. Ich bin am Ende nur noch mit bereits eingestelltem 110-Notruf auf dem Handy nach unten gegangen und war – wie alle anderen Mieter – kurz davor, wegzuziehen.“ Manchmal sei am Abend ein Bus vorgefahren, um Menschen zum Übernachten in die drei kleinen Wohnungen zu bringen, erzählt Rüdiger. „Wir sind auf die Roma zugegangen, haben sie und ihre Betreuer zum Gespräch eingeladen. Sinnlos.“

Einige Mieter und Wohnungsbesitzer geben Humanitas-Chef Thinius die Schuld. Werfen ihm vor, nicht oder viel zu spät reagiert zu haben, als sie ihm von den unzumutbaren Zuständen berichteten. Andere haben für Thinius sogar eine „Dankeschön-Party“ organisiert. Weil er den Familien gekündigt hat.

Vier Wochen ist das jetzt her. Vier Wochen, in denen die Bilder von den im Park schlafenden Menschen, ihren Kindern und Babys, immer wieder in der Presse auftauchten. Doch während die rumänische Generalkonsulin zu den Familien im Park ging und ihnen Hilfe anbot, falls sie nach Hause zurückkehren wollten, beschränkten sich die Berliner Politiker auf Statements: Der Senat erklärte die Bezirke für verantwortlich, die Bezirke forderten „eine Lösungsstrategie für ganz Berlin“.

Denn ähnliche Probleme wie in der Genthiner Straße gibt es inzwischen auch in anderen Berliner Kiezen. Vielleicht wollte man deshalb keine Unterbringungsmöglichkeiten finden. Man wisse ja nicht, wie viele Roma dann im Görlitzer Park lagern würden, hieß es hinter vorgehaltener Hand. Zu gegenwärtig ist die Erinnerung an den Juni 2009, als mehr als 100 Roma erst im Görlitzer Park, dann in einem besetzten Haus, einer Kirche und im Flüchtlingsheim Spandau unterkamen. Überall gab es Probleme – dann zahlte der Senat den Familien eine „Rückkehrhilfe“ von 250 Euro.

Natürlich könnte die Polizei tätig werden. Rumänische Staatsbürger dürfen sich, wenn sie keiner selbstständigen Arbeit nachgehen, nur drei Monate als Touristen in Deutschland aufhalten. Aber die Polizei sagt, man könne nicht nachweisen, wann die Leute eingereist seien. Organisationen wie Amaro Drom und Südost Europa Kultur, die sich um Roma-Familien aus osteuropäischen Ländern kümmern, weisen außerdem darauf hin, dass es sich bei den jetzt betroffenen Familien größtenteils um Menschen handelt, die hier bleiben möchten. Ohnehin seien entgegen einem verbreiteten Vorurteil die weitaus meisten Roma sesshaft.

Lesen Sie weiter auf Seite 3: Eine Lehrerin will helfen

Bianca, die Tochter von Maria D., würde gern in Berlin bleiben. Seit Beginn des vergangenen Schuljahres besucht die Neunjährige die Grundschule in der Lützowstraße. „Sie sprach kein Wort Deutsch, als sie eingeschult wurde“, sagt ihre Lehrerin Annegret Byfield, „sie wusste nicht, wie man einen Stift oder eine Schere hält – aber sie saß mit großen Augen da und sog alles wie ein Schwamm in sich auf. Inzwischen kann sich Bianca gut auf Deutsch verständigen und macht beim Lernen Fortschritte.“

Als Annegret Byfield hörte, dass Roma-Familien aus der Genthiner Straße jetzt im Görlitzer Park leben, wusste sie gleich, dass Bianca dabei war. „Ich bin nicht hingegangen, das hätte mich emotional belastet“, sagt sie. Zu ihrem Erstaunen sei Bianca aber nach den Ferien jeden Morgen pünktlich in der Schule erschienen. Gewaschen, sauber gekleidet und sogar mit Frühstück. „Manchmal ist sie freilich während des Unterrichts für zehn Minuten eingenickt“, erzählt die Lehrerin, „ihr Kopf sank auf den Schreibtisch – und ich habe sie schlafen lassen.“

Annegret Byfield geht behutsam mit ihrem Wissen um die familiäre Situation um. Als sie bemerkte, dass die Stifte immer wieder aus Biancas Federtasche verschwanden, weil kleinere Kinder aus der Familie auch malen wollten, kaufte sie eine zweite Mappe, die in der Schule bleibt. Seither holt sich das Mädchen jeden Morgen stillschweigend die Federtasche. Auch davon, dass sie im Park schläft, erzählt sie nichts in der Schule. Wie vielen Roma-Kindern wäre ihr das vor den Klassenkameraden peinlich. Und wie ihr Bruder Decebal schämt sie sich auch, wenn Lehrer oder Mitschüler sie zufällig beim Betteln mit den Eltern oder Geschwistern entdecken.

„Für Bianca ist unsere Ganztagsschule hier ein Paradies, zumindest ein geschützter Raum“, sagt Annegret Byfield. Die engagierte Lehrerin hat Bedenken, dass das Mädchen nicht mehr kommt, wenn es in Mariendorf wohnt. „Bianca braucht dringend Stabilität, ich hoffe, die Mutter bringt sie weiterhin zu uns.“

Byfields Hoffnung heißt Cristina Nastase, die manche „Engel der Roma“ nennen. Dabei ist die 33-jährige Sozialbetreuerin vom Verein Südost Europa Kultur alles andere als sanft, wenn es um die Interessen der Kinder geht. Schon oft hat sie Eltern klargemacht, dass sie gerade in dieser Hinsicht auch Pflichten haben. Dafür schaltet sie ihr Handy nie aus. Oft kommen die Hilferufe auch nachts: Ein Baby hat Fieber, oder ein Junge wurde zum Kindernotdienst gebracht. „Den Menschen wird in Rumänien oft das Blaue vom Himmel versprochen“, sagt sie, „dafür zahlen sie Geld, ziehen nach Deutschland und finden hier weder Arbeit noch Wohnung.“ Dennoch würden sich viele integrieren, sagt Nastase. Problematisch werde es aber, wenn viele auf engstem Raum lebten.

Die neue Wohnung, die Humanitas-Chef Lutz Thinius für Maria D. und ihre Familie besorgt hat, ist 90 Quadratmeter groß und kostet 850 Euro warm. Thinius hat keine Zweifel, dass er das Geld erhält. Ihm sei es egal, ob es vom Betteln oder Scheibenwischen kommt, sagt er. Nur nicht wieder vom Weiter- oder Untervermieten. Maria D. hat versprochen, dies in der neuen Wohnung zu unterlassen. Aber wie soll sie dann 850 Euro auftreiben? Und wie soll sie sich entziehen, wenn ihre Landsleute sagen: „Wir sind deine Verwandten, du musst uns bei dir schlafen lassen.“

Manche werfen Thinius vor, er nutze die Not der Roma aus, indem er schäbige Wohnungen an- und gewinnbringend an sie weitervermiete. Thinius bestreitet das: „Mein Verein finanziert sich zwar von der Differenz zwischen An- und Vermietung“, sagt er, „aber das Ziel ist, den Menschen zu helfen.“

Doch Sozialarbeiter erleben häufig Hausbesitzer, die genau wissen, dass zu viele Menschen in ihren Wohnungen leben und erst wachwerden, wenn sie plötzlich extrem hohe Wasserkosten haben. So lange sich „nur“ die Nachbarn beschweren, greifen sie nicht durch. Es passiere auch, dass Hartz-IV-Empfänger, deren Wohnung das Jobcenter finanziert, zum Freund ziehen und ihre zwei Zimmer an zehn Roma vermieten, die zwischen fünf und zehn Euro pro Nacht zahlen. Dies funktioniert genauso gut oder schlecht mit Bauarbeitern aus Osteuropa.

„Man spricht von einer Roma-Problematik, aber vielleicht spiegeln diese Menschen nur am deutlichsten einige Probleme in unserer Gesellschaft wider“, sagt Cristina Nastase. Es ist ein Geschäft mit der Armut, mit denen, die sich schlecht wehren können.

Familie D. hat an diesem Mittwoch viele Dankesreden auf ihren „Retter“ Lutz Thinius gehalten. Dabei ist ihre neue Unterkunft in Alt-Mariendorf ziemlich schmutzig, das Bad winzig, genauso die Kochnische. „Alles besser als im Park“, sagt Maria D.

Ein Rentner, der im gleichen Aufgang wohnt, erzählt, dass hier schon einmal eine Roma-Familie aus dem Kosovo gewohnt habe. „Aber nur für ein Jahr. Es hat zu viel Ärger gegeben.“

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