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Berlin: Rudolf Segeletz (Geb. 1932)

Heute nicht, morgen Licht, übermorgen Wahrheit

Nichts hatte er so sehr gefürchtet wie die Krankheit seiner Schwester. Doch als er selbst erste Anzeichen zeigte, verlor er kein Wort über seine Befürchtungen. „Mein Gedächtnis schwirrt hier irgendwo im Raum herum“, sagte er und lächelte ein wenig beschämt. Die Freunde hofften, dass das einer seiner Scherze war.

Ein verrückter Vogel war er ja schon immer, für jeden Spaß zu haben. Aber die Anzeichen mehrten sich, die Irritation nahm zu. Anfangs entfielen ihm Namen, dann verschwanden Worte, schließlich wurde ihm die Umgebung rätselhaft und fremd.

Er war ungewöhnlich, auch schon als Lehrer, viele Jahre zuvor. Gab sich nie allwissend. Vertröstete die Schüler auf die nächste Stunde, wenn er eine Frage nicht beantworten konnte – und eröffnete den Unterricht dann verlässlich mit der versprochenen Antwort.

Und sein Gedächtnis war phänomenal. Kam er in eine neue Klasse, ließ er in der ersten Stunde Namensschilder aufstellen. Nur in dieser ersten Stunde, „danach muss ich euch kennen“. Später, als Schulleiter, konnte er die Namen aller Schüler herunterbeten. Mehr als 1000 waren das. Begegnete er einem Schüler im Gang, sprach er ihn selbstverständlich mit dem Namen an.

Er war ein sesshafter Charakter, von Fernreisen hielt er nichts. Einen Traum allerdings erfüllte er sich und einer Abiturklasse: Es war in den sechziger Jahren, für fünf Wochen meldete er eine Studienreise an und entführte seine Schüler aus dem Berliner Schulalltag auf eine verträumte griechische Insel. Ein Abenteuer, denn Tourismus gab es auf Milos zu jener Zeit kaum.

Es sollte schließlich seine Insel werden. Und für viele wurde er auch dort zum Magneten. Seine Tochter heiratete auf der Insel ihren Schwarm aus Kindertagen, einen Griechen, und zog dorthin. Bekannte kauften sich Häuser auf Milos, weil er ihnen das Paradies auf Erden versprach.

Vom guten Leben verstand er einiges, aber mit den kleinen Dingen hatte er es nicht so. Als „herzlich unpraktisch“ bezeichnete er sich, und das war sanft untertrieben. Strich er einen Zaun an, haftete zum Schluss mehr Farbe an ihm selbst als an den Pfosten. Eine Glühbirne war kaputt? Nur gut, dass es Menschen gab, die ihm gern halfen.

Immerhin, als er sich seinen Pensionärstraum erfüllte, ein eigenes Haus auf der Insel, lernte er, selbst zu kochen. Nun hatte er auch einen Hund, den er abgöttisch liebte und entsprechend verwöhnte. Er machte sogar noch seinen Führerschein, um im kleinen Auto entlegene Gebiete und Strände zu erreichen. In West-Berlin hatte er sich noch belächeln lassen als einer der wenigen, der gerne mit der S-Bahn fuhr.

Seine große Leidenschaft waren Gedichte; mehr als 2000 konnte er einmal auswendig, so behauptete er jedenfalls. Und der Tagesspiegel-Leser aus Berliner Zeiten ließ sich, säuberlich auseinandergeschnitten und per Fax, die Weihnachts- und Osterrätsel auf die Insel schicken. So kam er rechtzeitig in den Besitz der zehn Aufgaben, die er umgehend löste. Sein Name fand sich dann regelmäßig auf der Lösungsseite unter der Rubrik „Ausland“.

Als er erkrankte, drehte der ehemalige Deutschlehrer Kapriolen mit der Sprache: „Die Straßenbahn hat Schienenübung. Der Fahrer muss sich um die Fahrung kümmern und nicht um die Reifung.“

„Die Stadt wird auch immer mehr zerstöbert.“

„Heute nicht, morgen Licht, übermorgen Wahrheit.“ Man konnte nur vermuten, ob in der Reihung eine Ahnung vom Tod steckte.

Als es dann auf seiner geliebten griechischen Insel doch nicht mehr alleine weiterging, als er sich immer fremder in der eigenen Umgebung fühlte und als auf einmal die Sehnsucht nach Berlin auftauchte, nach den längst verstorbenen Eltern und der schwer kranken Schwester, da kehrte er doch noch zurück. Er kam in ein Heim.

Ein letztes Jahr blieb ihm, ein kalter, langer Winter.

Eine schwere Erkältung, eine Lungenentzündung, nach zwei Tagen schlief Rudolf Segeletz, den seine Freunde „Rudi“ nannten, friedlich ein. Seinen Tobbi-Hund, nun als großes Stofftier, nahm er mit ins Grab. Und von dort, wo er jetzt ist, wird er lässig mit seiner Hand wedeln. „Kinder, Kinder, nehmt euch bloß nicht so wichtig.“ Stefan Berkholz

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