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Sarrazin

© dpa

Sarrazins Abschied: Sieht Berlins Zukunft wirklich so düster aus?

Soziale Verwahrlosung, wachsende Unterschicht, renitente Eltern: Vor seinem Abschied aus Berlin zeichnet der Finanzsenator ein finsteres Bild der Hauptstadt. Hat er Recht oder übersieht Sarrazin positive Signale? Was meinen Sie?

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Jeder fünfte Berliner lebt von Sozialhilfeleistungen. Der Anteil der Hilfeempfänger ist doppelt so hoch wie im gesamten Bundesgebiet, auch die soziale Grundsicherung für alte Menschen nimmt nach Darstellung des Finanzsenators Thilo Sarrazin (SPD) „explosionsartig zu“. Und in den Bezirken Mitte, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg stammten etwa 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren aus Familien, die Hartz-IV- Empfänger sind. Sarrazin findet das alarmierend. „Wir haben in Berlin eine abgenabelte Unterschicht, die stetig wächst.“

Der scheidende Finanzsenator, der am 1. Mai zur Bundesbank wechselt, setzt sich jetzt noch einmal mit den Schwierigkeiten im Sozial- und Bildungssystem Berlins auseinander. „Wir haben ein Grundsatzproblem.“ Der wachsende Anteil von „Hartz-IV-Familien“ führe beispielsweise in den Schulen dazu, dass es immer mehr „besonders schwierige Kinder mit besonders renitenten Eltern gibt“. Dieser Kampf sei kaum zu gewinnen. Sarrazin fühlt sich durch Statistiken bestätigt, nach denen kinderreiche Familien in Berlin besonders häufig von staatlichen Sozialhilfeleistungen leben. Im Durchschnitt beziehen 57 Prozent der Eltern mit mehr als zwei Kindern Hartz IV. Bei den Alleinerziehenden sind es fast 88 Prozent.

Das zeige, so der Senator, dass es sich nicht in erster Linie um ein Migrantenproblem handele, denn Alleinerziehende seien meistens Deutsche. Andererseits legte er jetzt Zahlen vor, nach denen 71 Prozent der türkischstämmigen Schulanfänger aus der Unterschicht kommen. Bei den Arabern seien es 66 Prozent, bei den deutschen Schülern knapp 24 Prozent. Den Bildungs- und Gesundheitszustand der Schulanfänger aus der unteren sozialen Schicht charakterisieren die Statistiken aus der Finanzverwaltung so: Bei den Kindern nichtdeutscher Herkunft könnten über die Hälfte keine oder nur fehlerhafte Kenntnisse der deutschen Sprache vorweisen. Und der Anteil der neuen Schüler, die übergewichtig seien, schlechte Zähne hätten oder mit dem Fernseher im eigenen Zimmer aufwachsen, sei bei der Unterschicht besonders hoch. „Das ist alles ein Ausdruck sozialer Vernachlässigung“, sagt Sarrazin dazu.

Der Senator hält offenbar nicht nur die Berliner Schulen für überfordert, sondern bezweifelt auch die Qualität der staatlichen Kitas. „Es gibt viel freies Spiel, wenig Singen und Märchenerzählen.“ Das Datenmaterial, das Sarrazin ausgewertet hat, kommt unter anderem aus der Gesundheitsverwaltung, dem Amt für Statistik und der Bundesagentur für Arbeit. Sein Fazit: Es mache keinen großen Sinn, zusätzliche finanzielle Ressourcen „für eine Struktur zur Verfügung zu stellen, wo der Anteil der Bedürftigen von Jahr zu Jahr wächst“. Schon jetzt flössen drei Viertel der Landesausgaben in die Bereiche Bildung, Soziales und öffentliches Personal. Vor allem die Sozialausgaben stiegen von Jahr zu Jahr.

Immer wieder hatte sich der Finanzsenator mit seinen Analysen zur Bildungs- und Sozialpolitik unbeliebt gemacht. Als er 2008 forderte, das Kindergeld erst ab dem dritten Kind zu zahlen, gab es koalitionsintern großen Ärger. Als er die bundesweite SPD-Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro infrage stellte, legten ihm Genossen sogar den Rücktritt nahe. Auch die Gewerkschaften werden den Senator nicht so schnell vergessen. Zumal er zum Abschied sagt: „Berlin kann seinen Haushalt nur konsolidieren, wenn wir an das Personal rangehen.“ Bei den Tarifverhandlungen, die im laufenden Jahr für den Landesdienst anstehen, plädiert Sarrazin für einen „Miniabschluss“, möglichst erst mit Wirkung ab Herbst 2010.

Soziale Verwahrlosung, wachsende Unterschicht, renitente Eltern: Vor seinem Abschied aus Berlin zeichnet der Finanzsenator ein finsteres Bild der Hauptstadt. Hat er Recht oder übersieht Sarrazin positive Signale? Was meinen Sie? Diskutieren Sie mit!

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