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Berlin: „Schade, dass sie weg müssen“

Die Bewohner der Liebigstraße 14 sind bei vielen Nachbarn eher beliebt Aus Sorge vor Krawallen schließen aber drei Kitas und einige Läden

Auf dem Bürgersteig vor dem orangefarbenen Haus Liebigstraße 14 stehen alte Sofas, Sessel und Stühle kreuz und quer übereinander. Schwarz gekleidete junge Menschen tragen Gegenstände aus dem mit bunten Antifa-Plakaten und Wimpeln dekorierten Gebäude und werfen sie auf den größer werdenden Möbelhaufen. Oft mit Wucht, so dass es kracht und scheppert. Frust liegt in der Luft. „Wir sind eben sehr sauer“, fasst eine Bewohnerin des 1990 besetzten und 1992 legalisierten Hauses die Stimmung zusammen. Morgen ab acht Uhr soll das alternative Wohnprojekt nach langen gerichtlichen Auseinandersetzungen geräumt werden.

Auf der anderen Straßenseite bleiben Menschen stehen und beobachten die Ausräumaktion. Eine Mutter, die mit ihrem Kind auf dem Weg zum nahegelegenen Kinderladen „Rock‘n‘Roll-Zwerge” in der Rigaer Straße ist, schaut kurz zum Haus hinauf, wo zwei Männer sich gerade abseilen, um ein neues Protestplakat anzubringen. „Ich finde es schade, dass die Leute hier wegziehen. Sie waren immer freundlich“, sagt die 33-jährige Lehrerin. Dass die Kita ihrer dreijährigen Tochter wegen der Räumung bis Donnerstag geschlossen sein wird, findet sie in Ordnung. „Die Kinder sollen möglichen gewaltsamen Auseinandersetzungen nicht ausgesetzt sein“, sagt sie. Vor den großen Fenstern der „Rock‘n‘Roll-Zwerge“ befindet sich ein Loch im Bürgersteig, dort haben Randalierer am Samstagabend Pflastersteine herausgerissen, Autos demoliert und die Fensterscheiben von leerstehenden Gewerberäumen eingeworfen. „Das waren bestimmt nicht die Bewohner der Liebig 14, sondern gewaltbereite Autonome“, sagt eine Kita-Erzieherin. Die „Liebig 14“-Bewohner hätten nach der Neueröffnung des Kinderladens im letzten Sommer die Rollos der Einrichtung schön bunt und kinderfreundlich angemalt.

Auch die beiden anderen Kindertagesstätten in der Nachbarschaft werden am Tag der Räumung geschlossen bleiben. Eltern der Einrichtung „Tausendfüßchen“ können in eine andere AWO-Kita in der Kleinen Markusstraße ausweichen. Und auch der Kindergarten der Galiläakirche in der Rigaer Straße wird am Mittwoch „unfreiwillig schließen“, wie es dort heißt. Im Hinterhofe gelegen wäre er gewalttätigen Autonomen, die versuchen könnten, sich einen Weg durch die Hinterhöfe zu bahnen, wie in einem Kessel nahezu schutzlos ausgeliefert.

Auch das Jugendwiderstandsmuseum, das als Dauerausstellung in der benachbarten Galiläakirche beheimatet ist, wird nicht öffnen. „Nur zur Sicherheit, damit hier etwaige gewaltbereite Trittbrettfahrer nichts beschädigen“, sagt der Leiter der Museumswerkstatt Bernhard Freutel, der schon seit weit über 20 Jahren im Kiez wohnt. Die „Liebig 14“ hat seine Sympathie, weil „die jungen Leute gegen den Zug der Gentrifizierung kämpfen, der einst in Prenzlauer Berg losging und irgendwann die gesamte Innenstadt erreicht haben wird”, so Freutel. Er sei sich sicher, dass er für das Gros der Anwohner sprechen würde, denn viele hier seien traurig über die Räumung. Tatsächlich fallen beim Weg durch die Liebig- und die Rigaer Straße an mehreren Balkonen und Hauswänden Plakate ins Auge, die sich mit dem Wohnprojekt solidarisch erklären. Trotz der frischen Farbbeutel-Flecken und der Glasscherben auf dem Boden, den Überbleibseln der gewaltsamen Ausschreitungen von Samstag, bei denen rund 40 Polizisten verletzt und einige Autos demoliert wurden.

Auch die meisten Ladenbesitzer in der Nachbarschaft sind nicht froh über die bevorstehende Räumung. Allen voran Murat Erdogan, der Inhaber der von der „Liebig 14” nur wenige Schritte entfernten „Bäckerei 2000”. „Die Hausbewohner waren täglich unsere Kunden und waren stets nett und offen“, sagt der 46-Jährige, und Verkäuferin Sengün Obst ergänzt: „Ich kenne viele der jungen Bewohner, sie haben nie jemandem etwas getan.” Daher sei die Bäckerei auch am Morgen der Räumung ganz normal geöffnet. „Ich denke nämlich nicht, dass wir Angst haben müssen”, sagt die 38-jährige Obst. Das sehen die Angestellten im Imbiss „Casablanca” und der Bar „Paparazzi 3” genauso: „Bei der letzten Demo hatten wir nur Besuch von Räumungsgegnern, weil diese auf die Toilette mussten“, sagt die 32-jährige Sasa. Nur der Betreiber der Pizzeria Castello einige Häuser weiter weiß noch nicht, ob er regulär öffnen oder nur Lieferservice anbieten soll. Er betrachtet die Angelegenheit ganz nüchtern: „Für uns bedeutet so ein Tag mit Straßensperrungen und Blockaden vor allem ein Verlustgeschäft.“ Eva Kalwa

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