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Berlin: Scharfe Biegung

Wenn die Schlangenfrau Natalja Vasyljuk ihren Auftritt hat, halten die Zuschauer den Atem an

Natalja sitzt ganz brav auf dem Ledersofa im „Wintergarten“-Restaurant, kerzengerade, die Hände auf den Oberschenkeln. Man sieht nur ihre nach vorn gekämmten Kurzhaarfransen, diese dunklen Mandelaugen und den üppigen Mund. Was sie verbirgt, sind Arme, Hände und diese endlos langen Beine. Und genau das ist es, was uns zu ihr führt. Nataljas Arbeitsorgane sind Hände, Beine und Füße. Der Körper einer 24-Jährigen als Gesamtkunstwerk, vorgeführt im laufenden Programm unseres Varietétheaters. Heftig bejubelt, weil bei dieser Nummer jeder an seine eigenen Möglichkeiten körperlicher Beweglichkeiten denkt. Die sind nämlich gleich Null gegen diese Adagio-Akrobatik mit den schlangengleichen Gliedern, die in der Zeitlupe gedehnt und gestreckt oder über dem Kopf verschlungen werden. Verknotete Beine, kreisrund gebogenes Rückgrat aus Gummi, Körperbeherrschung, Präzision, dazu Anmut und ein Lächeln, als ob das alles ein Kinderspiel sei. In der Welt der Kunst des Staunens wird solch kunstvolle Gymnastik „Kontorsion“ genannt, „Verrenkung, gewaltsame Verdrehung (eines Gliedes)“ sagt das Lexikon – wir haben es demnach bei der jungen Dame aus der Ukraine mit einer Kontorsionistin zu tun, einem „als Schlangenmensch auftretenden Artisten, der sich kunstvoll verbiegen kann“.

Und wo und wie lernt man so etwas?

„Wenn man mit zehn Jahren in ein Kiewer Zirkusstudio geht“, sagt Natalja Vasyljuk, der immer schon Posen wie Spagat und Brücke Spaß gemacht haben, bis die Arzttochter das körpereigene Schlangenwesen in einem vierjährigen Studium zum Beruf zu machen begann. Außer allem Möglichen wie Zirkushistorie, Musik und Kunstgeschichte stand ein vierstündiges Training auf dem Tagesprogramm – 240 Minuten für die schönsten und ansehnlichsten Verrenkungen, dargeboten in nur 240 Sekunden auf den Bühnen der Welt. Daheim ist die Schlangenfrau Teil einer Gruppe von 15 Artisten, die ständig neue Elemente proben. Ohne Show werden täglich zwei Stunden trainiert, hier in Berlin, wo Natalja Vasyljuk noch bis zum 30. Oktober im Wintergarten zu sehen ist, steht vor jeder Vorstellung eine Stunde Warmmachen auf dem Programm. Die Konfektionsgröße 34 wird durch leichte Kost gehalten: Früh gibt es Tee mit Honig und einige Kekse, nach dem Training eine kleine warme Mahlzeit, aber beim Auftritt muss der Magen leer gehungert sein, dann als Belohnung später ein wenig Sushi.

Die 1 Meter 68 große Artistin reist mit dem Äquilibristen Anatoli Zalevski („das ist der Chef“) durch die Welt, in diesem Jahr verbog sie ihren Körper schon in Hongkong, Südkorea, Katar und Montreal, auf Berlin folgt München. Unsere Stadt gefällt Natalja „im Prinzip gut“, Kiew sei zwar heimatlicher, hier aber kann man am Potsdamer Platz viel mehr einkaufen und im IMAX vor der riesigen Leinwand so schön staunen. Die Frau könnte, sagt sie, ihre Beine theoretisch bis zum 40. Lebensjahr von hinten über den Kopf schwingen und neben die eigenen Hände stellen – also, sagen wir mal, im Handstand mit den Zehen Schreibmaschine oder Computer schreiben. Aber das möchte sie gar nicht, „höchstens bis ich 30 bin – denn dann kommen, hoffentlich, die eigenen Kinder“. Für alle, denen Nataljas Wespentaille unerreichbar scheint, gibt es Tipp wie Trost: üben, üben. Und: „Auch ich war mal ein Pummelchen“.

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