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Die Gedenktafel für Margarethe Sommer hängt an der Westfälischen Straße 64 (Halensee). Das Bild darf unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation verwendet werden.

© OTFW Berlin / Wikipedia.de

Schauplatz Berlin (Auflösung 5): Das Fräulein vom Schreibwarenladen

Fast an jeder Ecke in Berlin hängt eine Gedenktafel, 2820 sind es insgesamt. Der Tagesspiegel bietet jede Woche ein Gedenktafel-Rätsel. Hier finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Auflösung zu unserer fünften Folge.

Sie ist Anfang 30, hat ihren eigenen Laden in Halensee an der Westfälischen Straße. Reger  Publikumsverkehr, viele kleine Geschäfte. Der Mann, mit dem Margarethe Sommer einige Häuser weiter zusammenlebt, ist Lehrer und Politiker, Otto Ostrowski. War bis 1933 Bürgermeister von Prenzlauer Berg. Eigentlich ist er mit einer Jüdin verheiratet. Als Politiker kann er nicht mehr arbeiten. Ließe er sich scheiden, wäre seine Frau nicht mehr geschützt.

Fräulein Sommer ist also seine Geliebte, verkauft in ihrem Geschäft Hefte, Schreibzeug, Zeichensachen. Als im November vor 70 Jahren ihr Freund Otto jüdischen Freunden hilft unterzutauchen, kommen diese beiden, Ella Deutschkron und ihre Tochter Inge, zunächst bei ihm und der Ladenbesitzerin unter: in der gemeinsamen kleinen Wohnung. Bald darauf wechseln die Verfolgten ins Hinterzimmer des Schreibwarenladens. Immer zur Verkaufszeit müssen sie das Geschäft allerdings verlassen. Am Wochenende dürfen die beiden im Schildhorner Bootshaus von Margarethe und Otto wohnen. Der Stress für alle, die nun Gefahr laufen, entdeckt zu werden, ist groß. Ostrowski lässt seine Gereiztheit bisweilen an den Beteiligten aus. Im November 1943 werden er und Margarethe Sommer ausgebombt, sie finden eine Zuflucht in Calau (Lausitz).. Nun führt Inge Deutschkron für fast ein Jahr das Geschäft, unter falschem Namen.

1944 lässt sich Otto Ostrowski schließlich von seiner getrennt lebenden Frau scheiden – und versteckt diese in Calau bis zum Ende des Krieges. Auch Ella und Inge Deutschkron  überleben. Für Ostrowski als Politiker, der bald Bürgermeister von Wilmersdorf wird, folgt eine zweite, sehr kurze Karriere: Fünf Monate lang ist er Oberbürgermeister von Großberlin, bis zum Misstrauensantrag im April 1946. Er heiratet die langjährige Freundin. Sie stirbt 1960, im Alter von 50 Jahren. Bis zu seinem Tod (1963) wird er noch, verbittert und enttäuscht von der Politik, in Belgien leben.

Heute ist die Ladenfront, hinter der die geheime Rettungsaktion im Haus Westfälische Straße 64 stattfand, rot gestrichen, orthopädische Hilfsmittel werden da verkauft. Eine Straße der Einzelhändler und Handwerker: Gegenüber Reinigung, Apotheke, Obstladen, Weinhandlung, Café. Links und rechts Tierpraxis, Glaser, Möbeltischler und Innendeko-Bedarf. Peitschenlampen. An der nummerierten Linde, die Beschützer gefunden hat, ist ein rotes Papierherz befestigt. 

Margarethe Sommer, das Fräulein vom Schreibwarenladen, wäre beinahe vergessen worden, gemeinsam mit seinem – ungleich bekannteren – Politiker-Gefährten. Erst seit ein paar Jahren hängt eine Gedenktafel, die den Mut des Paares würdigt, am historischen Ort. Der Name dieser Couragierten, die sich durch ihren Otto Ostrowski verleiten ließ, das eigene Leben zu riskieren, gleicht übrigens bis auf einen Buchstaben dem einer anderen, zu Lebzeiten gewürdigten Judenretterin: Die katholische Sozialarbeiterin Dr. Margarete Sommer (1893 – 1965) wurde in Deutschland und in Israel für ihre langjährige Rettungsorganisation zugunsten getaufter und nichtgetaufter Bürger jüdischer Herkunft geehrt, auch für sie gibt es eine Gedenktafel (in Friedenau), eine Straße ist nach ihr benannt. Die  Erinnerung an unsere noch unbekanntere Alltags-Heldin aus dem Schreibwarengeschäft steht deshalb auch im Schatten der Verwechslung. 

Die nächste Folge von Schauplatz Berlin erscheint am kommenden Sonntag im gedruckten Tagesspiegel

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