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Schillerndes Zwischenspiel: Die Staatsoper zu Gast in der Bismarckstraße

Seit einem Jahr ist die Staatsoper Unter den Linden ausquartiert. Am Anfang gab es Probleme. Inzwischen hat sich die Oper aber längst am Ausweichstandort Bismarckstraße eingelebt.

Die Sessel sind noch da. Die alten hölzernen polsterbespannten Sessel mit den abgewetzten Rundungen, die über ein halbes Jahrhundert lang in der Staatsoper Unter den Linden ihren Dienst taten. Sieben von ihnen stehen jetzt vor dem Büro von Jürgen Flimm. Als wollten Sie den Intendanten daran erinnern, wo die Staatsoper herkommt und wohin sie wieder zurückkehren wird. Nur, dass die alten Sessel dann gar nicht mehr da sein werden. Das Stammhaus wird gerade grunderneuert, auch die Bestuhlung wird ersetzt.

Vor genau einem Jahr begann der Umzug ins Schillertheater. Am 5. Juni 2010 war die letzte Vorstellung, Daniel Barenboim dirigierte „Eugen Onegin“ mit Rolando Villazón, René Pape und Anna Samuil. Die Aufführung wurde, wie in den Jahren zuvor, live über Großbildleinwand auf dem Bebelplatz übertragen. Danach fiel der Startschuss für die größte logistische Herausforderung, die je eine Opernbühne in Berlin und wahrscheinlich in Deutschland erlebt hat. Der komplette Betrieb mit 600 Mitarbeitern wurde nach Charlottenburg verlegt, wo der Senat das nach jahrelanger Vernachlässigung ruinöse Schillertheater für 30 Millionen denkmalgerecht modernisieren ließ. „Ohne Beispiel“ sei diese Aktion gewesen, sagt Flimm, wunderbar und professionell, mit größter Ruhe, sei der Umbau im wahrsten Sinne des Wortes über die Bühne gebracht worden.

Wie war das erste Jahr im neuen Haus? Natürlich gab es Bedenken. Im Schillertheater steht weniger Platz zur Verfügung, die Büros sind kleiner, alle müssen zusammenrücken. Würde das auf die Stimmung schlagen? „Bis Weihnachten hat es gedauert“, so Flimm, „dann hatte sich der Betrieb eingespielt.“ Auch in der Technik musste sich manches erst zurechtruckeln. Ein wichtiger Aufzug („Die Schlagader des Hauses“ nennt ihn Flimm) hatte Steuerungsprobleme. Die sind inzwischen längst behoben. Die viel größere Herausforderung war, das Repertoire umzusetzen. „Einzelne Produktionen an anderen Häusern zu zeigen kommt ja häufig vor. Aber mit dem kompletten Repertoire umzuziehen, ist etwas ganz anderes“, sagt Hans Hoffmann, Technischer Leiter des Hauses. Listen wurden erstellt, 20 von den 70 Produktionen, die Unter den Linden liefen, gingen mit, sie mussten aber den neuen technischen Bedingungen angepasst werden. Da konnte dann zum Beispiel kein Tischchen mehr aus dem Bühnenboden fahren.

Dafür haben die Musiker der Staatskapelle jetzt einen Orchestergraben, der es ihnen erlaubt, mit den Instrumenten stufenlos in die Garderobe und die Probenräume zu wechseln. Und auch der Schnürboden wurde komplett erneuert. 40 elektromotorische Prospektzüge für Kulissen hängen hier. Im alten Haus waren es mehr, nämlich 60. Aber das war ein wildes, über die Jahre gewachsenes Durcheinander. „Dort gab es drei unterschiedliche Antriebssysteme“, erzählt Hans Hoffmann, „mit hydraulischen, elektrischen und handbetriebenen Zügen, die nicht synchron bewegt werden konnten.“ Besonders freut er sich über den neuen Fuhrpark. Bis 2010 standen der Staatsoper für den Kulissentransport nur Anhänger mit Vollgummibereifung, Baujahr 1955, zur Verfügung. Jedes Jahr brauchten sie eine Ausnahmezulassung.

Und das Publikum? „Für das gibt es keinen Nachsendeantrag“, sagt Flimm. Viele Ostberliner seien nicht mitgezogen an die neue Spielstätte im Westen. Er gibt zu, dass die ersten Monate schwierig waren. Spätestens seit den Festtagen hätte sich die Auslastung aber konsolidiert. In Charlottenburg ist ein gänzlich neues Publikum entstanden. „Das erzählen mir die Musiker der Staatskapelle. Die können den Besuchern in der ersten Reihe ja direkt ins Gesicht blicken und sagen, da würden völlig neue Gesichter sitzen, die sie Unter den Linden nie gesehen hatten.“ Eine Frischzellenkur für die Staatsoper, sozusagen. Die aber jeden Tag neu erkämpft werden muss. „Man darf das nicht unterschätzen“, meint Flimm. So ein Umzug käme, was die PR betrifft, einer Neugründung gleich. Vor allem in Berlin mit seinem riesigen kulturellen Angebot. Da ist auch ein Haus mit dem Label „Staatsoper“ kein Selbstläufer – schon gar nicht mit der Deutschen Oper in der Nachbarschaft. Die beiden Häuser scheinen sich das Publikum aber nicht gegenseitig wegzunehmen, vielmehr fischen beide erfolgreich im Pool der Neuberliner. Die Deutsche Oper vermeldet gar einen Publikumszuwachs.

Vincent Boussard kann man die Freude über den neuen Arbeitsplatz ansehen. Der französische Regisseur probt zurzeit Bernsteins „Candide“, vor einem Jahr inszenierte er – noch Unter den Linden – Händels „Agrippina“, er hat also den direkten Vergleich. „Die Beziehung zum Publikum ist im Schillertheater enger“, sagt er. „Agrippina“ ist eine intime Barockoper mit wenig Charakteren, die Darsteller musste er häufig „pushen“, sie an die Rampe schicken, damit überhaupt was rüberkommt. Das ist im Schillertheater nicht nötig, und so kann sich Boussard auf die schauspielerische Seite, auf das Charakterspiel konzentrieren – was in dem zwischen Musical, Operette und Oper changierenden „Candide“ besonders wichtig ist. Außerdem liebt er die neue Probebühne. Sie entspricht in ihren Abmaßen der Hauptbühne, und sie ist – ganz wichtig – mitten im Haus. „Da fühlt man sich als Regisseur komplett integriert“, erzählt Boussard. „Das ist sehr wichtig, wenn man nur sechs oder sieben Wochen zu Gast ist.“

Seit einigen Wochen steht fest, dass sich der Umbau des Stammhauses verzögert und die Staatsoper ein Jahr länger, bis 2014, im Schillertheater bleiben muss. Jürgen Flimm nimmt’s gelassen. „Wenn wir uns hier unwohl fühlen würden, wäre das schlimm. Aber das ist ja überhaupt nicht der Fall.“ Klingt fast so, als wolle er gar nicht mehr zurück. Da sollte er wohl öfter mal einen Blick auf die Sessel vor seinem Büro werfen.

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