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Berlin: Schlafes Brüder

Seit einem Monat ist Ariel Scharon, Israels Ministerpräsident, bewusstlos – die Erweckung aus dem künstlichen Koma schlug fehl. Nun liegt er wohl im echten Koma. Ein Berliner Experte erklärt den Unterschied

Die Ärzte haben ihn mit modernsten Geräten untersucht, sie haben ihm gezielt Schmerzen bereitet, sie haben ihm seine Lieblingsmusik vorgespielt und den Duft von Grillfleisch durch das Krankenzimmer strömen lassen, das hat er früher so gerne gemocht. Aber Ariel Scharon hat nur mit leichten Bewegungen reagiert, aufgewacht ist er nicht. „Wir können ihn nicht zurückholen“, sagt der leitende Narkosearzt der Klinik in Jerusalem, Charles Weissman. „Das muss er selbst machen.“

Am 4. Januar, vor fast genau einem Monat, war Scharon, israelischer Ministerpräsident, nach einem Schlaganfall ins künstliche Koma versetzt worden. Es bestand die Gefahr, dass der Hirndruck ansteigen würde. Der Tiefschlaf sollte weitere Schäden vermeiden. Denn durch das künstliche Koma sinken Sauerstoffbedarf und Energieverbrauch der Organe – der Körper kann sich erholen.

Die tiefe Bewusstlosigkeit, sei es im künstlichen oder echten Koma, macht fast jedem Angst, wirkt zugleich aber auch merkwürdig faszinierend, man sieht diese Bilder ja immer wieder, in Fernsehkrimis, Dokumentarfilmen, Nachrichten. Man sieht dort Menschen, die ganz der Technik ausgeliefert sind. Über dem Bett Monitore, daneben Infusionsflasche. Schläuche, Sonden und Kabel scheinen aus Körpern zu wachsen. Der Mensch wird beatmet, Puls, Atmung und Blutdruck werden ständig überwacht, durch die Venen wird er mit Medikamenten versorgt, vielleicht ist er an eine Apparatur zur Blutwäsche angeschlossen, auf jeden Fall wird er künstlich ernährt. „Ich möchte nicht, dass mein Leben nur an der Maschine hängt“, sagen viele bei einem solchen Anblick. Und doch kann Koma auch heilen. Wenn es künstlich hergestellt wird.

Patienten in künstliches Koma zu versetzen, wie bei Scharon geschehen, ist ärztliche Routine. Analgo-Sedierung wird das genannt. Gezielt werden Medikamente gegeben, die auf das Bewusstsein wirken und den Schmerz ausschalten, oft auch welche zur Muskelerschlaffung. Es sind dieselben, die auch im Operationssaal für Narkosen eingesetzt werden. „Wir wollen den Patienten damit den Stress nehmen, den die Maßnahmen auslösen, die auf der Intensivstation nötig sind: Es handelt sich also um eine Art medikamentöser Abschirmung“, sagt Sven Bercker, Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Charité, Campus Virchow. Außerdem würden im Wachzustand unbewusst immer wieder körperliche Reaktionen ablaufen, die die Genesung schwer Kranker beeinträchtigen können: Blutdruckspitzen, Pulsanstiege, Erhöhungen der Atemfrequenz und Schmerzreaktionen. Allerdings ist es „selten die Krankheit selbst, die uns dazu zwingt, Patienten ins Koma zu legen, meist geht es um die Schwere der Begleitumstände“, sagt Sven Bercker. Besonders wichtig ist es, die Patienten künstlich zu beatmen, um sie mit genügend Sauerstoff zu versorgen – etwa nach einer schweren Lungenentzündung.

Nach Operationen, bei denen eine Herz-Lungen-Maschine zeitweise die Funktion des Herzens übernahm, werden Patienten heute oft noch eine Zeit lang in Narkose gehalten und auf der Intensivstation überwacht. Es gibt aber auch Menschen, die Wochen oder sogar Monate im künstlichen Koma leben. Zum Beispiel, wenn nach einer Infektion des gesamten Organismus – einem septischen Schock – der Kreislauf zusammenbricht, weil mehrere Organe versagen.

Seit in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die ersten Intensivstationen eingerichtet wurden – heute gibt es allein auf dem Campus Virchow der Charité neun, auf allen Campus der Charité insgesamt 26 –, hat sich das Fachgebiet ständig weiterentwickelt. So wird das Ausmaß der Ruhigstellung inzwischen genau dosiert: „Wir haben heute einerseits den Anspruch, dass die Patienten nicht unter unseren Maßnahmen leiden müssen, andererseits sollen sie möglichst milde sediert werden.“ Bei vielen reicht es, sie in eine Art Dämmerzustand zu versetzen, so dass sie zwar die Augen öffnen, wenn sie angesprochen werden, sich später aber nicht mehr an diese Zeit erinnern. Die Pfleger sprechen deshalb mit Menschen im Koma und erklären ihnen, was sie tun – auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie verstanden werden.

Auf einer Intensivstation liegen viele künstlich „beruhigte“ Menschen. Ruhig darf man sich das Leben dort deshalb aber nicht vorstellen. Das Brummen der Beatmungsgeräte, vor allem aber das ständige Fiepen des extrem sensibel eingestellten Alarms, wenn an einem der Betten ein Messwert aus der Norm fällt – für die Angehörigen ist das beunruhigend. Und auch viele Patienten, die aus dem künstlichen Koma erweckt werden, sagen später, wie belastend die Geräuschkulisse für sie war. Sie sind nach dem Erwachen dem Leben wiedergegeben, aber sie können das Treiben um sie nicht einordnen.

Das Aufwachen ist überhaupt ein Thema für sich. War die Sedierung tief und hat sie lange gedauert, dann bemerken die Ärzte oft Entzugserscheinungen, denn die Medikamente können eine Abhängigkeit erzeugen. „Wir versuchen, die Mittel langsam auszuschleichen“, sagt Sven Bercker. Neuerdings wird bei manchen Patienten sogar ein „Daily Wake-up Call“ praktiziert: Die Narkose wird einmal am Tag weit heruntergefahren, damit sie nicht zur Gewohnheit wird. Auch daran, aus eigener Kraft wieder genügend Luft zu schöpfen, muss sich der Langzeit-Beatmete oft mühsam wieder gewöhnen. Intensivmediziner haben komplizierte Schemata zur Überbrückung ersonnen. Die meisten Patienten, die längere Zeit beatmet werden, bekommen nach einiger Zeit einen Luftröhrenschnitt. Um die empfindliche Schleimhaut von Mund und Nase nicht zu belasten, wird der Sauerstoff dann direkt vom Hals in die Luftröhre gegeben.

Manchmal aber kommt der Patient nicht wieder zu Bewusstsein, wenn die Medikamente abgesetzt sind – so, wie es bei Ariel Scharon zu sein scheint. Der Patient ist nicht mehr im künstlichen Koma – und man erkennt erst jetzt, dass er ohnehin im natürlichen Koma liegt; die Sedierung hatte seinen Zustand vorher sozusagen überdeckt. „Trotz modernster Computertomografien können wir den klinischen Zustand während dieser Zeit nicht immer abschätzen“, sagt Sven Bercker.

Bercker arbeitet nun schon fünf Jahre auf seiner Intensivstation, die auf knifflige Beatmungsprobleme spezialisiert ist. Er sagt: „Man muss persönliche Distanz entwickeln und primär technisch an die Probleme herangehen.“ Doch der Klang seiner Stimme lässt wenig Zweifel daran, dass „Apparatemedizin“ und Mitgefühl für seine Intensivpatienten sich nicht ausschließen. „Immer wieder erwischt es einen“, gesteht er, „man ist bewegt – manchmal auch glücklich bewegt“.

Adelheid Müller-Lissner

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