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Der bessere Weg. Experten raten erschöpften Eltern, die Verwandtschaft um Hilfe zu bitten.

©  dpa/Uwe Anspach

Schlafmittel bei Kindern: Ein gefährlicher Trend

Manche Eltern geben, wenn sie mit den Nerven am Ende sind, ihren Kindern Schlaf- oder Beruhigungsmittel. Das sollten sie auf jeden Fall unterlassen. Denn bei den Kleinsten dosiert man schnell völlig falsch. Das kann lebensbedrohlich sein.

Eine ruhige Nacht. Eine einzige nur. Ob es das Neugeborene ist, das über Wochen die Nächte durchschreit oder der Zweijährige, der mit schöner Regelmäßigkeit nachts zwischen zwei und vier Geschichten erzählt haben möchte – der Wunsch nach ein paar ungestörten Stunden Schlaf am Stück vereint alle Eltern. In Onlineforen ist zuletzt vermehrt zu lesen, dass einige Eltern sogar bereit sind, ihren Kindern Schlafmittel zu geben, wenn sie selbst mit ihren Kräften und Nerven am Ende sind.

Gelesen hat das auch die bayerische Gesundheitsministerin und Ärztin Melanie Huml. Anfang des Jahres schlug sie Alarm. Nach Einschätzung ihres Ministeriums greifen immer mehr Eltern auf Medikamente zurück, damit ihr Kind durchschläft. „Diesen gefährlichen Trend, den Kinderärzte und Wissenschaftler derzeit beobachten, müssen wir stoppen“, erklärte die Ministerin und warnte vor gesundheitlichen Folgen für die Kinder.

„Wenn Kinder nicht durchschlafen, handelt es sich meist um eine Phase, und die wird nicht besser, wenn der Schlaf künstlich induziert wird“, sagt Hans Fuchs, Leiter der pädiatrischen Intensivmedizin am Universitätsklinikum Freiburg. Er rät grundsätzlich davon ab, Kindern Mittel zu geben, die sie zum Schlafen bringen, auch von pflanzlichen. Medikamente können gerade bei kleinen Kindern sehr leicht überdosiert werden. Fast jedes Schlafmittel führt ab einer gewissen Dosis zu Atemstillstand – das ist lebensbedrohlich. Auch Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus gehören zu den Nebenwirkungen von beruhigenden und sedierenden – also ruhigstellenden – Medikamenten.

Ein flächendeckendes Problem, sagt Hans Fuchs, sei die Gabe von Schlafmitteln sicher nicht. Er habe mit Kinderärzten und Kollegen aus der Vergiftungszentrale gesprochen, denen ebenfalls nichts aufgefallen sei. „Das schließt aber nicht aus, dass in Einzelfällen Eltern ihren Kindern Schlafmittel geben oder sie ihnen auch von einem Arzt verschrieben werden“, sagt Fuchs. Dass es diese Fälle tatsächlich gibt, bestätigen Zahlen, die im Herbst 2017 veröffentlicht wurden: Laut einer Auswertung des gemeinnützigen Deutschen Arzneiprüfinstituts (DAPI) haben Ärzte 2015 insgesamt rund 18700 Mal Beruhigungs- und Schlafmittel für Kinder unter drei Jahren verschrieben. Auch wenn das nicht zwangsläufig heißt, dass die Eltern dem Nachwuchs die Tropfen oder Zäpfchen auch gegeben haben, ist das Grund zur Beunruhigung.

Diphenhydramin macht müde

Hermann Josef Kahl, Bundespressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), ist angesichts dieser Zahlen sehr deutlich in seiner Aussage: „Kinder sollten auf gar keinen Fall Schlafmittel bekommen. Auch Medikamente wie Vomex oder Fenistil (beides sind Anthistaminika, d. Red.), die als Nebenwirkung müde machen können, sollten Kindern niemals mit dieser Intention verabreicht werden.“

Auch der frei verkäufliche Wirkstoff Doxylamin, der unter anderem in dem Saft Sedaplus enthalten ist, wird bisweilen von Eltern eingesetzt, um Kinder ruhigzustellen. Mediziner sehen das kritisch, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) prüft derzeit, ob das für Kleinkinder zugelassene Doxylamin verschreibungspflichtig werden sollte. Die Behörde weist darauf hin, dass die Packungsbeilage schon längst ausführlich über die Risiken informiere. „Auch die Packungsbeilagen der Diphenhydramin-haltigen Arzneimittel informieren über die Risiken einer Überdosierung bei Kindern unter drei Jahren.“

Diphenhydramin ist der meist verwendete Arzneistoff gegen Erbrechen und Reiseübelkeit. Er macht müde und ist der Grund, weshalb manche reisenden Eltern ihren Kindern gerne Präparate wie Vomex A in Zäpfchenform geben. Das macht einen langen Flug erträglicher, für Eltern und Mitreisende. Doch der Wirkstoff ist gefährlich: Bei ruhig gestellten Kindern kann er Krämpfe, Angstzustände, Herzrasen oder Sehstörungen verursachen.

Für sogenannte Antihistaminika der ersten Generation, zu denen Doxylamin und Diphenhydramin gehören, forderte die Kommission für Arzneimittelsicherheit im Kindesalter (KASK) der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin bereits 2012 die Rezeptpflicht. Davon wären viele Husten- und Erkältungspräparate betroffen.

Der falsche Ansatz

„Es ist der falsche Ansatz, die Kinder zum Schlafen bringen zu wollen“, sagt der Kinderarzt Kahl. „Gesunde Kinder holen sich den Schlaf, den sie brauchen.“ Statt nach dem Kind solle man nach den Eltern schauen. Wie erschöpft sind sie, wann können sie schlafen? „Hier rate ich zum gnadenlosen Einsatz der Verwandtschaft und anderer Hilfsangebote. Sind die Eltern dann mal ausgeschlafen, ist es längst nicht mehr so problematisch, wenn das Kind nachts mal wach wird“, sagt Kahl.

„Jedes Baby muss einschlafen lernen, das ist keine angeborene Fähigkeit“, sagt der Reutlinger Kinderarzt Till Reckert. Kinder, die nachts häufig aufwachen, stecken in der Regel noch in der Lernphase. Ihre Hauptzeit, sagt Till Reckert, reiche etwa von der zweiten Woche bis zum dritten Monat. Irgendwann dann lernt das Kind, auch ohne Brust oder Flasche einzuschlafen. „Das zu erleben, muss dem Kind irgendwann ermöglicht werden, damit es das Einschlafen an dieser Erfahrung immer besser lernt“, sagt Reckert. Und genau diese Möglichkeit nimmt man dem Kind, wenn man ihm Schlafmittel verabreicht. Je selbständiger ein Kind hingegen einschlafen kann, desto eher wird es in der Nacht durchschlafen. Und wenn es dann doch einmal aufwacht, schläft es einfach wieder ein.

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Claudia Füßler

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