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Eine ganze Nacht unter Berlins Frühbuchern: Berlinale-Fans in der Ticket-Schlange

© dpa

Schlangestehen für Berlinale-Tickets: Nachts im Garten der Plastikbäume

Die Fans der Berlinale sind hart im Nehmen: Zehn Stunden standen sie vor der Kasse am Potsdamer Platz an – bis es am Montagmorgen die ersten Karten gab. Tiemo Rink hat sich die Nacht lang mit angestellt.

Die Katastrophe droht morgens um neun Minuten nach zehn: Jeder Film hat eine Nummer, über welche die Eintrittskarten gebucht werden – und die Nummer passt nicht zum Film. Rätselraten im Kassenhäuschen. Und während die Verkäuferin im Einfingersuchsystem über den Tastenblock kreist, bricht in der Warteschlange die Art von Hektik aus, die wohl entsteht, wenn man eine ganze Nacht auf etwas gewartet hat, das man jetzt nicht mehr zu bekommen scheint.

„Panorama, Panorama, Sie gucken doch auf der falschen Seite“, ruft die junge Frau mit den blonden Haaren, das Eintrittsgeld längst schon überreicht, aber kein Ticket bekommen. Von hinten Murren, hektische Blicke aufs Handy, ein paar hundert wartende Menschen, die Zeit verstreicht und während an den fünf anderen Kassen und im Internet seit neun Minuten die begehrten Karten der Berlinale den Besitzer wechseln, staut sich hier der Verkehr, bis endlich der richtige Film gefunden ist und die junge Dame nach Hause fahren kann, endlich schlafen.
Die Potsdamer Platz Arkaden zehn Stunden vorher: Es ist deutlich ruhiger. Eine ganze Nacht unter Berlins Frühbuchern – sie beginnt verhalten. Der harte Kern der Berlinale-Kartenvorverkaufs-Jäger besteht aus vielleicht einem Dutzend Männer und Frauen in Schlafsäcken. Am anderen Ende des Einkaufszentrums tobt das Superbowl-Finale aus einer Bar, jeder Touchdown frenetisch bejubelt, Premium-Stimmung in New Orleans, Schneematsch in Berlin.

Wer hier ab etwa Mitternacht auf das Öffnen der Kassenhäuschen um zehn Uhr morgens wartet, geht wirklich gerne ins Kino – bevorzugt dann, wenn Schauspieler und Regisseure unter den Zuschauern sind. Einen Spitzenplatz auf der nach oben offenen Engagement-Skala dürfte Dennis, 26 Jahre, belegen. Ein junger Mann aus Dessau, der am Sonntagabend nach Berlin gekommen ist und nun die nächsten zwei Tage und Nächte im Wesentlichen in Warteschlangen verbringen wird. 300 Autogramme und Fotos hat er gesammelt, natürlich auch von Bruce Willis, aber da er an der Echtheit zweifelt, wird er am Montagabend vor dem Cinestar am Potsdamer Platz in der Kälte stehen, Stift und Block griffbereit, in der Hoffnung, Willis werde auf dem Weg zur Premiere des fünften Teils von „Stirb langsam“ einen kurzen Halt bei Dennis machen.

Ihm gegenüber sitzen ein Mann und eine Frau, beide in den Zwanzigern, denen es so peinlich ist, zehn Stunden vor einer Kasse zu campieren, dass sie im Leben nicht auf die Idee kämen, jetzt hier in dieser Nacht ihre Namen zu verraten. Aber was soll man machen, die Prominentengier ist zu groß, und so steht „Les Misérables“ im Friedrichstadtpalast auf ihrer Wunschliste ganz oben, besetzt mit Hugh Jackman, Russel Crowe oder Amanda Seyfried, und der eine oder andere Schauspieler wird sich dann hoffentlich bei der Vorführung zeigen, und dann hätte sich das Warten schon gelohnt. Eisern hingegen ihr Schweiggelübde in eigener Sache. „Ich sag nix“, ruft der junge Mann, die Zeigefinger überkreuzt, aufspringend und fliehend.

Trotzdem, alle sind glücklich. Erst recht, als jetzt die erste Reinigungskraft des Tages gegen fünf Uhr mit einem Staubsauger um die Gruppe herumsaugt. „Ey, du siehst aus wie der aus dem Dschungelcamp“, sagt die namenlose Frau. „Joey, bist du es?“, legt der Mann nach, aber der Staubsaugermann lächelt nur milde, denn das wäre ja noch schöner, sich bei der Arbeit von irgendwelchen Typen verarschen zu lassen, die gegen fünf Uhr morgens in Einkaufszentren herumlungern, Kino hin, Berlinale her.

Zum Sonnenaufgang gegen sieben Uhr beginnen die Plastikbäume im Einkaufszentrum leise zu zwitschern. Darüber freuen können sich die mittlerweile vielleicht 50 Menschen vor der Kasse und der Mann auf dem Reinigungswagen in Sitzrasenmähergröße, der jetzt durch die Gänge kurvt, und man mag es gar nicht glauben, auf wie viele unterschiedliche Arten man ein Einkaufszentrum putzen kann – von Puscheln zum Regale abstauben über Wischmops für die Ecken und Kanten bis hin zu profanen Besen, Handfegern und Fensterreinigern und wieder von vorne. Auch die Warteschlange vergrößert sich jetzt rapide, es dominiert der Rucksackberliner, eine herzensgute Unterart des Stoffbeutelberliners, die ansonsten bei Großveranstaltungen aller Art die Stadt mit sich und ihresgleichen voll macht. Kulturinteressiertes Publikum, Brillen auf der Nasenspitze fokussieren das Angebot, Anflüge von Kaffeehausstimmung. Das schöne an der Berlinale sei, dass hier auch ganz normale Filmliebhaber zum Zuge kämen, sagt ein älterer Mann.

Während vorne die Hektik ausbricht, geht’s am Ende der Warteschlange ruhiger zu. „Bitte, nehmen Sie meinen Stuhl“, sagt die alte Frau zur noch älteren, „hier ist noch Platz, setzen Sie sich doch“, klingt es vom Sofa gegenüber. Autogramme jagt von denen keiner.

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