Auf dem S-Bahnhof Neukölln drückt eine junge Frau ihre Zigarette aus und spricht einen S-Bahn-Angestellten an, der am Bahnsteigrand steht: „Gucken Sie doch bitte nicht so böse, Sie gucken genauso streng wie mein Papa, ich habe die Zigarette ja schon ausgemacht, also lächeln Sie doch wieder, bitte.“ Sie spricht laut, sodass es alle hören können. Doch außer dem S-Bahner und mir lächelt niemand zurück.
Die anderen Wartenden schauen lieber demonstrativ in die Gegend oder auf ihr Smartphone – ist schließlich keine Live-Performance hier. Kein Eventort, bloß ein langweiliger Bahnhof, ein Transitort zwischen zwei Terminen.
Täglich gibt es in Berlin Abertausende Möglichkeiten, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen. Es ist nicht immer so einfach wie in diesem Fall auf dem S-Bahnhof (Wir haben uns dann noch über das Shisha-Rauchen unterhalten, ob da Drogen drin sind, war sehr nett). Natürlich muss man ausloten, wann ein Lächeln angebracht ist, eine Frage legitim. Oft aber reicht schon eine kurze zündende Bemerkung aus, um eine Konversation zu entfachen. Etwa ein „Bravo“, wenn jemand seine zerknüllte Papiertüte per Fernwurf im Mülleimer versenkt hat. Oder ein „Träumen Sie schön“, wenn jemand offenkundig, vielleicht die Augen geschlossen, die Sonne genießt.
Doch im öffentlichen Raum herrscht ein kaltes, durchdringendes Schweigen, ein rituelles Desinteresse am Gegenüber, eine regelrechte Kommunikationsverweigerung. Gab es früher nur Bücher oder Zeitungen, um ostentativ ein „Bitte nicht stören“ an die Umwelt zu senden, hat es der Großstädter heute viel einfacher, sich abzukapseln: Stöpsel ins Ohr, Auge und Finger ans Handy-Display, schon sind die wesentlichen Sinne blockiert. Demnächst wird die Virtual-Reality-Brille die lästige Umwelt samt Mitmenschen komplett aussperren.
Wer Kopfhörer überstülpt, hört keinen Hilferuf
Dies ist keine Kritik an moderner Kommunikationstechnik, allerdings durchaus an einer gewissen Verrohung und Rücksichtslosigkeit, die damit einhergehen. Leute tapsen durch die Stadt, ohne von ihrem Smartphone aufzusehen, oder sprechen laut hinein, ohne sich zu fragen, ob das die Umstehenden nerven könnte. Wer große Kopfhörer überstülpt, hört keine Bitten oder Fragen mehr – auch keinen Hilfeschrei aus dem Gebüsch.
Als geradezu erniedrigend, inhuman und egoistisch empfinde ich das Blockieren von freien Sitzen in Bussen und Bahnen. Fahrgäste setzen sich auf den Sitz am Gang, ihr Rucksack, die Einkaufstüte oder das Easyjet-Handköfferchen nehmen am Fenster daneben Platz. Die Botschaft: Ich sitze lieber neben einem Gepäckstück als neben Ihnen. Selbst, wenn kein Gepäck zur Hand ist, bleiben Kommunikationsverweigerer grundsätzlich auf den äußern Plätzen sitzen, versperren anderen Reisenden so den Weg zum freien Fensterplatz mit ihren Knien, statt das Naheliegende zu tun: Durchzurücken. Wie sollte dieses Zeichen an die Umstehenden anders zu deuten sein als: Nähe unerwünscht.

Zumal ja der Kommunikationsverweigerer, würde er den Platz am Gang durchs Ans-Fenster-Rutschen freigeben, kurz vor seinem Zielbahnhof seinerseits darum bitten müsste, durchgelassen zu werden. „Darf ich mal eben durch, bitte?“: Eine erzwungene Kontaktaufnahme auf engstem Raum!
Die wachsende Distanz zum Mitmenschen in einer wachsenden Stadt – sie ist gefährlich. Bereits ein Blick in die Augen eines Fremden, die Polizeimeldungen belegen das, kann eine Spirale der Gewalt auslösen. Das ist richtig. Mit Vorsicht hat das von mir beobachtete Verhalten wohl aber kaum zu tun.
Höflichkeit kann man lernen
Jedes Gespräch beginnt mit Augenkontakt. Und endet auch damit. Wo ist die Höflichkeit geblieben? „Höflichkeit ist wie ein Luftkissen; es mag wohl nichts darinnen sein, aber sie mildert die Stöße des Lebens bedeutend.“ Autor unbekannt. Höflichkeit lässt Menschen, die einander fremd sind, scheinbar mit Liebe begegnen. Und scheinbare Liebe ist viel besser als offene Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung. Höflichkeit kann man lernen – wie eine Fremdsprache.
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