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Das Auto ist kein wildes Tier, aber es "erfasst" Schwächere wie Radfahrer und Fußgänger

© imago images/Shotshop

Schon 39 Verkehrstote in Berlin in diesem Jahr: Das Auto ist kein wildes Tier, das Menschen „erfasst“

Die Zahl der Verkehrsopfer ist unglaublich hoch. Die nüchterne Sprache der Polizeimeldungen wird da unerträglich. So kann es nicht weitergehen. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Gerd Appenzeller

Bis zum vergangenen Wochenende waren in Berlin in diesem Jahr bereits 39 Menschen im Straßenverkehr gestorben. 14 Radfahrer, 14 Fußgänger, und sieben Motorradfahrer sind unter den Opfern. Im ganzen Jahr 2019 verloren 40 Menschen ihr Leben auf Berliner Straßen – 2020 wird also wohl ein furchtbares Jahr werden, nicht nur wegen der Corona-Pandemie, sondern auch durch dieser dramatischen Entwicklung im Straßenverkehr.

Und die ist noch Besorgnis erregender, wenn man bedenkt, dass in den ersten Wochen des Shutdown, der Firmenschließungen wegen der Krankheitswelle, auf den Straßen viel weniger Autofahrer als normalerweise unterwegs waren.

Vielleicht fällt gerade deshalb die fast schon kühle und emotionslose Berichterstattung über Unfälle mit Verletzten oder gar Toten auf, wie sie sich im täglichen Polizeireport wiederspiegelt, aber auch in Zeitungen und im Rundfunk. Der „Tagesspiegel“ ist da nicht ausgenommen.

Journalisten haben ja, wie die Kolleginnen und Kollegen der Pressestellen der Polizei, gelernt, Nachricht und Kommentar zu trennen. Aber wenn man weiß, dass seit Jahresbeginn 39 Menschen durch Verkehrsunfälle getötet wurden, fröstelt es einen doch, wenn man die sprachlich-distanzierten Reports liest:

„Am 21. August übersieht ein nach links abbiegender Autofahrer einen entgegen kommenden Radfahrer und erfasst ihn. Der Radfahrer erleidet schwere Kopfverletzungen.“ „Am 22. August biegt ein Lastwagenfahrer nach rechts ab und erfasst eine geradeaus fahrende Radlerin. Sie stirbt am Unfallort.“ „Am 23. August öffnet ein Autofahrer die Fahrertür seines Wagens und erfasst eine Radfahrerin. Sie wird schwer verletzt.“

Als sei ein Auto ein wildes Tier, das ein schwächeres "erfasst"

Immer wieder dieses Wort: „erfasst“. Als sei da ein wildes, ungezügeltes Tier unterwegs, das Schwächere, vorzugsweise Radfahrerinnen, Radfahrer und Fußgänger „erfasst“. Immer trifft hier Macht auf Ohnmacht. Denn immer erfassen Autos andere, schwächere Verkehrsteilnehmer. Ein Radfahrer erfasst keinen Fußgänger, kein Fußgänger erfasst ein Auto.

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Der „Fasser“ ist es, der die Macht hat. Aber das ist nicht nur sprachlich, es ist auch inhaltlich falsch. Denn das Auto, der „Fasser“, hat überhaupt keine Macht. Es ist ein seelenloses Wesen, ein Gebrauchsgegenstand. Die Macht hat, wer hinter dem Lenkrad darüber entscheidet, wohin dieses Auto fährt. Wie schnell es ist oder ob es bremst. Ein Auto ist kein unkontrolliertes Tier, das mal zupackt, oder auch nicht. Der Mensch entscheidet – und er entscheidet falsch, wenn er die Situation nicht erfasst hat.

Wenn Sprache besonders verräterisch und verharmlosend wird, dann hat das Auto den Radfahrer oder Fußgänger, den Menschen, dem es bei einem Zusammenstoß Leid und Schmerzen zugefügt hat, nur „touchiert“. Das hört sich harmlos an, klingt fast schon elegant. Aber tatsächlich ist es zynisch.

Der Begriff „touché“ beschreibt ja beim sportlichen Fechten den Treffer, der nicht verletzt, sondern einen Punkt bringt. Touchieren können sich Menschen, die sich absichtsvoll oder zufällig im Vorbeigehen berühren. Aber touchieren führt weder zu Schmerzen noch zum Tod.

39 Verkehrstote in nicht einmal acht Monaten. Diese Zahl sollte unseren Verstand erfassen. Sollte uns berühren. Und uns bewusst machen, dass dies eine furchtbare Zahl ist, und dass nur wir, niemand sonst, darum kämpfen müssen, dass es nicht einfach so unfassbar weiter geht.

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