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Schriftsteller Horst Pillau: Heiligabend 1948: Kaugummi und andere seltsame Geschenke

Erinnerungen an Weihnachten 1948: Wie ein 16-Jähriger, der später zum bekannten Schriftsteller wurde, das Fest im Nachkriegsberlin erlebte.

Wenn Heiligabend 1948 überhaupt Glocken läuteten, so wurde ihr Klang überdeckt vom Dauerlärm der Motoren der Rosinenbomber. Es war Blockadezeit, und West-Berlin wurde aus der Luft versorgt. Es war kein heiteres Weihnachtsfest. Wir warteten seit drei Jahren und zwei Monaten auf den Vater, der eines Tages im Oktober 1945, also lange nach Kriegsende, zur sowjetischen Kommandantur nach Karlshorst bestellt worden war und nie wiederkam. Mein Vater arbeitete in der damals gemeinsamen Berliner Stadtverwaltung, untergebracht im Haus des heutigen Finanzministeriums. Noch monatelang ging meine Mutter nachmittags um fünf zum U-Bahnhof Krumme Lanke, um ihn abzuholen.

Immerhin: Die Weihnachtstage waren gesichert. Wir würden weder frieren noch hungern. Das war ungewöhnlich, denn ich wusste, dass meine Mutter oft für meinen jüngeren Bruder und mich hungerte. Ich hatte vom Bezirksamt Zehlendorf-Mitte einen Stubbenzuteilungsschein erworben, durfte also einen Baumstumpf im Grunewald roden. Das bedeutete stundenlange Schwerarbeit mit dem Zersägen und Abhacken der Wurzeln. Und der Stubben war feucht, das Holz brannte schlecht. War es aber nachts so kalt, dass sogar das Wasser in der aus dem Bett gefallenen Wärmflasche gefror, zog ich mit zwei Klassenkameraden manchmal in den Grunewald. Wir sägten dann eine Kiefer an, fällten sie aber erst genau dann, wenn eine viermotorige Skymaster über uns zum Anflug auf Tempelhof ansetzte, damit Polizei oder Förster nicht hörten, wie der Baum zu Boden krachte. Denn die anderen Rosinenbomber vom Typ DC3 waren zu leise dafür. Und das Baumfällen war ja während der Luftbrückenzeit alle anderthalb Minuten möglich, außer bei dichtem Nebel.

Es war also ein Weihnachtsabend, an dem wir nicht froren. Ich war tags zuvor in der großen Pause von der Schadowschule aus hinüber zum Güterbahnhof Zehlendorf Mitte gerannt, war hastig über den Zaun geklettert, hatte ein paar Briketts von einem Waggon gefringst und war zur Schule zurückgehechtet, von Transportpolizisten verfolgt. „Fringsen“ war eine temporäre Wortschöpfung. Der damalige Kölner Kardinal Frings hatte von der Kanzel herunter beruhigend versichert, es sei keine Sünde, Kohlen zu klauen, und so nannten wir das Kohlenklauen fringsen.

Finanziell ging es uns schlecht. Meine Mutter hatte meist gerötete Augen, sie strickte für ein Textilgeschäft Tag für Tag Pullover und Wollwesten, aber kaum wegen des kümmerlichen Lohnes, sondern weil sie dadurch die Lebensmittelkarte II, die Arbeiterkarte erhielt, das war besser als die Karte V, die Normalverbraucherkarte, die Verhungerkarte.

Manchmal stand ich am Bahnhof Zehlendorf West, heute Mexikoplatz, und verkaufte Saccharinschächtelchen für zehn Reichsmark pro Stück, nahm mir aber aus jeder Schachtel zwei der hundert Süßstoffpillen für unseren Eigenverbrauch heraus. Aus den Bombentrichtern entlang der U-Bahnstrecke zwischen Oskar-Helene-Heim und Onkel Toms Hütte holte ich NS-Souvenirs, die von SS-Leuten, Blockwarten und anderen Nazis dort hineingeworfen worden waren: Ritterkreuze, SA-Dolche, Parteiabzeichen, Hitlers „Mein Kampf“ und Hakenkreuz-Armbinden. Mit deren Hilfe nahm ich Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika auf, diese meist in Gestalt des Sergeanten William W. Whitley, der mir Camels oder Chesterfields dafür gab, mit denen ich wiederum Brot kaufen konnte. Für zehn Zigaretten gab es ein 1000-Gramm-Graubrot.

Aber es zeigte sich eine große Veränderung an. Ich hatte, 16 Jahre alt, wenige Tage vor Heiligabend unter Herzklopfen den ersten, grünen Honorarzettel vom RIAS Berlin, dem Rundfunk im Amerikanischen Sektor, für einen Sketch erhalten. Das Geld war an der Kasse abzuholen – wer besaß schon ein Bankkonto? Und mein frühes Lebensziel war es nun, Rundfunkautor zu werden. Das Honorar betrug 30 Mark, drei Viertel in Ostgeld, ein Viertel in West.

Bald danach wurde mein erstes Hörspiel aufgenommen. Es hieß „Vermisst zwei Jungen“ und handelte von zwei Schülern, die einen Ruinenkeller erkundeten und darin für Tage von nachrutschendem Schutt eingeschlossen wurden, das geschah damals öfter. Regie führte Rolf von Sydow, die beiden jungen Hauptdarsteller hießen Horst Buchholz und Ernst Jacobi. Um die Sendung zu hören, mussten wir aber zu Bekannten nach Wilmersdorf fahren. West-Berlin hatte täglich nur zweimal zwei Stunden Strom. Die Sendung begann um 15.30 Uhr, und Wilmersdorf war von 14 bis 16 Uhr am Netz. Nach dem letzten Wort des Hörspiels waren Radio und alle anderen elektrischen Geräte unserer Gastgeber tot.

Weihnachten 1948 ahnte ich noch nicht, dass ich drei Jahre später mit Hans Rosenthal und dem Rias-Sprecher Felix Knemöller ein kleines Gastspielunternehmen besitzen würde: das „Schwarze Brettl“. Wir veranstalteten sonnabends als Nachtvorstellung in zwei oder drei West-Berliner Kinos gleichzeitig bunte Programme. Spätere Stars wie Harald Juhnke, Günter Pfitzmann oder Wolfgang Gruner traten hier auf. Die Abendeinnahmen transportierten wir mit meiner alten 250er Zündapp: Ich lenkte, Hans Rosenthal saß auf dem Soziussitz, und meine Mutter, im Beiwagen, hielt die Kassette mit dem Geld auf dem Schoß.

Für das Festmahl am Heiligen Abend und die beiden Feiertage war gesorgt. Wir hatten das Glück, ein Care-Paket aus den USA zu bekommen. Das holte ich wenige Tage vor Weihnachten ab, groteskerweise aus dem Ostsektor, dem Machtbereich also, von dem aus wir ausgehungert werden sollten. Es gab ja noch keine Mauer, und man durfte die Grenze in beiden Richtungen passieren. Meine Mutter tischte Peanutbutter und Ahornsirup auf, auch andere sonderbare Köstlichkeiten wie Wrigley’s Kaugummi oder den Inhalt einer Blechdose mit braunem Fett, das mein jüngerer Bruder Affenfett nannte. Wir verfügten über Trocken-Kartoffeln, Trocken-Milch und Trocken-Ei, pulverisierte Lebensmittel also, sie waren frisch eingeflogen, und es ging die Saga um, dass es künftig auch Trocken-Babys geben würde, zehn Minuten in lauwarmes Wasser legen und quellen lassen.

Mein Vater kam aber nicht als Weihnachts-Mann herein, nicht als Überraschung, nicht bis Mitternacht und auch nicht in den folgenden Jahren. Er war von einem sowjetischen Militärgericht zum Tode verurteilt und im März ’46 erschossen worden. Das erfuhr meine Mutter nie, sie starb 1963. Aber mein Bruder und ich erhielten 40 Jahre später einen Brief aus Moskau: Es habe sich damals um einen Irrtum gehandelt, und Curt Pillau sei nun rehabilitiert. Kein Bedauern, aber immerhin eine Mitteilung, das war schon sehr viel.

Wir feierten also ohne Vater das Weihnachtsfest 1948, und am ersten Feiertag erwartete uns der Höhepunkt. Ein Nachbar, Filmarchitekt, dem ich öfter Zigaretten verkaufte, hatte aus einem zerstörten Kino nachts einen einzigen Projektor organisiert, außerdem alle Rollen des Spielfilms „Die Frau meiner Träume“. Wir sahen kostenlos und in Privatvorstellung einen deutschen Film in Farbe, zwar im Krieg gedreht, aber im Film gab es keinen Krieg und keine Not, keinen Hunger und keine Luftbrücke, und da ich noch keine Frauen oder Mädchen kannte, schwärmte ich erst einmal lange von der Hauptdarstellerin: Marika Rökk.

Hans Rosenthal mit Horst Pillau (stehend) und Toningenieur Haro Michna am Pult im Rias. Gern erzählt Pillau heute über seine Zeit mit Hans Rosenthal...
Hans Rosenthal mit Horst Pillau (stehend) und Toningenieur Haro Michna am Pult im Rias. Gern erzählt Pillau heute über seine Zeit mit Hans Rosenthal...

© privat

Zur Person

Sein Name ist eng verbunden mit Berlin, doch geboren wurde Horst Pillau am 21. Juli 1932 – in Wien. Allerdings siedelte seine Familie schon 1934 nach Berlin um. Nach dem Abitur im Jahr 1950 studierte er Publizistik und Germanistik an der Freien Universität Berlin und in Innsbruck. Schon als junger Mann arbeitete Pillau fürs Radio, schrieb dort Hörspiele, Texte für den Kinderfunk und das Kabarett. Sein erstes Bühnenstück „Das Fenster zum Flur“ entstand in Zusammenarbeit mit Curth Flatow, der wie Pillau zu den bekanntesten Bühnen- und Fernsehautoren gehört. Beide verbindet die Freundschaft zu Showmaster Hans Rosenthal (1925-1987), für dessen Fernsehsendung „Dalli Dalli“ sie zahlreiche Sketche schrieben. Tsp

Horst Pillau

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