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100 Jahre Rütli-Schule: "Zu meiner Zeit gab es keine Wachposten"

Die berüchtigte Rütli-Schule wird 100 Jahre alt und erfindet sich neu. Rundgang mit einem früheren Schüler.

Es ist Donnerstag früh. Horst Bosetzky blickt auf das graue Schulgebäude und kneift ein Auge zu: „Viel hat sich von außen nicht verändert“, sagt der 71-Jährige zu Cordula Heckmann, die gerade zufällig vorbeikommt. Sie ist die Rektorin der benachbarten Heinrich-Heine-Schule und leitet ab September die Gemeinschaftsschule „Campus-Rütli“. Heckmann steht für die Zukunft der pädagogischen Einrichtung, Bosetzky verkörpert die Vergangenheit: Der Neuköllner ging hier von 1946 bis 1951 zur Schule. „Zu meiner Zeit gab es aber keine Wachposten“, sagt der Autor. Am Eingangstor stehen zwei Männer mit blauen Westen, auf denen „Germania Wachschutz“ steht.

Die Rektorin freut sich über den Besuch von Bosetzky. Sie kennt seine Bücher, in denen der Chronist das Nachkriegsneukölln und seine Kindheit an der „31. Grundschule an der Rütlistraße“ beschreibt. „Ihre Kollegen haben uns alle für Deppen gehalten“, sagt Bosetzky freundlich zu ihr. Er habe eine „Sozialisation durch Angst“ erlebt: Angst vor zuschlagenden Lehrern, die nie lobten, Angst vor prügelnden Mitschülern und schließlich vor den Eltern, die einen ohrfeigten, weil man sich in der Schule hatte schlagen lassen. „Schrecklich“, sagt Heckmann und hört zu, nicht ohne einzuschieben, dass es auch „ganz fantastische Kollegen“ gäbe, die sich um ihre Schüler bemühten. Dann muss sie ins Sekretariat.

Bosetzky schlendert ins Gebäude, das für seinen großen Geburtstag aufgehübscht wird. Denn an diesem Freitag feiert die deutschlandweit berühmt-berüchtigte Schule ihr 100-jähriges Bestehen. Das Schulgebäude wurde in der Kaiserzeit fertiggestellt und nach dem Ersten Weltkrieg zur Reformschule. Im Zweiten Weltkrieg musste es als Lazarett dienen.

Redner der Jubiläumsfeier in der neuen Mensa werden neben anderen der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky und Christina Rau sein, die Witwe des verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau. Auch Horst Bosetzky wird am Nachmittag ein paar Worte sagen. Er wird aus seinem Buch eine Passage über die Schulspeisung vorlesen. „Das war das Beste an der Schule“, sagt er.

Der Exschüler will auch erwähnen, dass es hier vor über fünfzig Jahren kaum anders zuging als im Jahr 2006 – als ein Brandbrief des Kollegiums ganz Deutschland in Aufruhr versetzte. „Die Stimmung in den Klassen ist geprägt von Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz Erwachsenen gegenüber“, schrieben die Lehrer vor drei Jahren an den Senat, „wir sind ratlos, brauchen dringend Hilfe.“ Nach Bekanntwerden des Briefs standen Dutzende Journalisten vor der Schule und wollten über das Drama im Migrantenviertel berichten. Seither steht die Schule für das Scheitern der Hauptschule schlechthin und der Name „Rütli“ für gescheiterte Integration im Einwanderungsland Deutschland.

„Wenn Sie mich fragen, haben die Probleme an der Schule nichts mit Einwanderung zu tun“, sagt Bosetzky, der auch Soziologieprofessor ist. „Die Zustände waren damals genauso, ohne Einwanderer.“ Brutales, männliches Gehabe sei schon immer ein Teil der Jugendkultur im Arbeiterviertel Nordneukölln gewesen. Heute ist die Arbeitslosenquote hier doppelt so hoch wie in ganz Berlin.

Auch Altun Icöz kann nicht nachvollziehen, dass die Schule zum Synonym für gescheiterte Integration wurde. Die 38-jährige Sozialpädagogin, die hier in den letzten beiden Jahren als interkulturelle Moderatorin arbeitete, meint: „Die Schüler und die Schule sind viel besser als ihr Ruf.“ Natürlich hätten die Sprösslinge in Neukölln mit besonderen Problemen zu kämpfen: „Hier können viele Eltern nicht so auf ihre Kinder eingehen, wie Bildungsbürger sich das oft vorstellen.“ Doch in den Medien sei 2006 „maßlos übertrieben“ worden. Überall in der Hauptstadt fehlten Lehrkräfte, „vor allem Lehrer und Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund“. Und noch etwas hält Icöz für bedenklich: Das Gefühl, dass die Hauptschule die Endstation ihrer Karriere ist, sei unter Schülern stark verbreitet.

Das ist auch eine Erfahrung, die Aleksander Dzembritzki mitnimmt, wenn er die Rütli-Schule in wenigen Tagen verlässt. Der Schulleiter packt seine Sachen gerade in Kisten, als Horst Bosetzky sein Büro betritt: Dzembritzki, der erst 2007 als Rektor nach Neukölln gekommen ist, als keiner den Posten wollte, muss sich jetzt eine neue Aufgabe suchen. Er ist zufrieden mit dem Weg, den die Schule beschritten hat, und spricht vom „Campus Rütli“ als „pädagogischer Oase“.

Bosetzky betritt sein altes Klassenzimmer im ersten Stock. Hier lagern gebastelte Dekorationen für die Feier. Er stellt sich in eine Ecke und blickt aus dem Fenster. „Genau hier habe ich gesessen und geträumt“, sagt er – davon, Neukölln als Profifußballer zu verlassen.

Ferda Ataman

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