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© David Heerde

Schule: Abflug in die Kunstwelt

Das Evangelische Johannesstift verwandelt Schüler in „Kulturpiloten“ – zum Beispiel in der Berlinischen Galerie

Nach fünf Minuten ist die museumspädagogische Feinplanung Makulatur. Houda, die 9-Jährige mit dem Lockenkopf, gruselt sich vor der Reihe von Soldatenfotos – „Sind die alle tot?“ – und sprintet dann in die Weite des Ausstellungsraumes. Dort spielen Sinan und die anderen Jungs Versteck. „Das sieht ja komisch aus“, sagt Lukas, der zufällig die Schilder ohne Text entdeckt hat. Doch die Beine laufen viel schneller als seine Gedanken.

Es ist so unheimlich viel Platz in diesem Museum, der Berlinischen Galerie. Den „Kulturpiloten“ von der Humboldthain-Grundschule im Wedding wachsen geradezu Flügel, und das macht Sinn bei einem Projekt, das sich „Kinder beflügeln“ nennt.

Verantwortlich dafür ist das Evangelische Johannesstift Berlin. Die Stiftung will Schulen in sozialen Brennpunktkiezen helfen, ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Schüler der vierten Klassen werden zu „Kulturpiloten“ ausgebildet. Sie unternehmen Bildungsreisen in die glanzvolle Welt der Theater, Museen und Konzerthäuser, die vielen Kindern dieser Schulen verschlossen ist.

Kulturpilot zu sein, ist Auszeichnung und Verpflichtung zugleich. Nur zwei Kinder pro Klasse können mitmachen. Während ihre Mitschüler Mathe oder Erdkunde büffeln, nehmen die Kulturpiloten an Exkursionen teil, bekommen einen Stempel von jeder Einrichtung, die sie besuchen, und dürfen einen „Pilotenkoffer“ mit Kameras und Logbüchern tragen. Das alles macht sie unheimlich stolz.

Aber sie müssen auch viel dafür tun: Fragebögen sind auszufüllen und Präsentationen vorzubereiten. Die Kulturpiloten sollen nach Abschluss ihrer Exkursionen vor den Mitschülern von ihren Erfahrungen berichten. Dahinter steckt die Hoffnung, dass von ihnen der Bildungsfunke überspringen könnte, von Kind zu Kind.

Die acht Kulturpiloten-Kinder aus der Humboldthain-Schule nehmen die Berlinische Galerie ohne jede Scheu in Besitz. Die meisten waren noch nie in einem Kunstmuseum. Gleich zu Beginn bekommen die Kinder beiläufig mit, dass ihre Betreuerin, die Kunsthistorikerin Anke Kugelmann, hier im Museum arbeitet. Die Reaktion ist ein ungläubiges „Ach ja?“ Die Väter der Kinder haben ganz andere Arbeitsplätze – Autowerkstatt, Bundeswehr, Baustelle – oder gar keinen.

Die Kommentare zu den Bildern fallen prompt. Baselitz „A modern painter“ - „gruselig“. Dass in einem Kunstmuseum auch Fernseher hängen, findet Sinan, dessen Vater aus der Türkei stammt, ziemlich witzig. Das wird er zu Hause erzählen. Die wahre Herkunft der „schönen Steine“ in einer Vitrine, Titel: „Bordsteinjuwelen“, erschließt sich den Kindern dagegen nicht. Es sind einfache Straßensteine, die durch Schleifen und Polieren plötzlich den Rang von Edelsteinen einnehmen. Das steht im langen Erklärtext, doch lesen mag hier niemand.

Die Betreuer Anke Kugelmann und der Sozialpädagoge Michael Nadjé beschränken sich darauf, so wenig wie möglich einzugreifen und Fragen zu beantworten. Was sie eigentlich vorab erzählen wollten, verschieben sie auf den nächsten Termin. Die Kulturpiloten treffen sich bis zu zehnmal im Schuljahr, bereiten Exkursionen vor und nach, damit die flüchtigen Eindrücke tiefer ins Bewusstsein der Kinder sickern können. Wenn man sie fragt, sagen sie fast alle: „Gefällt mir hier“. Nur warum, wissen sie noch nicht.

Die Kunst selbst spielt beim ersten Besuch eher eine Statistenrolle. Die Jungs haben einen „Kickraum“ ausfindig gemacht, eine abgeteilte Ausstellungsnische, die einer völlig anderen Idee ihre Einrichtung verdankt. Die Betreuer sind verdutzt und ahnungslos. Was ist ein Kickraum? Na eben ein Raum, erzählen die Jungs, in dem man sich gelegentlich prügelt.

Sinan stoppt, als nackte Grazien zu sehen sind. Solche Bilder findet er „pervers“. Einfach die Augen schließen, empfiehlt Anke Kugelmann. Nach einer Weile des Herumtobens, Fotografierens und Assoziierens legen sich zwei Mädchen hin und beginnen zu zeichnen. Houda, der Lockenkopf, deren Familie aus Albanien stammt, steht schon fast zwei Minuten vor dem „Synthetischen Musikinstrument“ von Wladimir Lebedew und überlegt, was sie da eigentlich sieht. Die Betreuer sind beglückt. Heute so weit zu kommen, hätten sie gar nicht für möglich gehalten.

Kulturpiloten werden nicht die Klassenbesten oder Vorlautesten, sondern eher die Stillen und Introvertierten, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen.

Was die Kinder erleben, möchte „Kinder beflügeln“-Projektleiter Detlev Cleinow in einem „Kunst- und Kulturführer von und für Kinder“ dokumentieren. Ob das klappt, weiß er noch nicht. Auf jeden Fall wird es im Frühjahr 2010 eine große Abschlussveranstaltung mit allen Kulturpiloten geben. Ein Abschluss auf Zeit, denn das Projekt soll weiterlaufen. Ungefähr so: Die Piloten übergeben ihre Koffer an die nächsten Viertklässler und durchstreifen die Berliner Kulturlandschaft künftig auf eigene Faust. Vielleicht nehmen sie dabei ihre Eltern an die Hand.

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