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Schule: Abschied von den klassischen Zügen

Vor 100 Jahren, als die bessere Gesellschaft sich Autos zulegte, wurde die neu gewonnene Mobilität noch als Befreiung empfunden. Endlich unabhängig von Fahrplänen mobil sein, ohne in engen Zugabteilen neben wildfremden Menschen sitzen zu müssen.

Vor 100 Jahren, als die bessere Gesellschaft sich Autos zulegte, wurde die neu gewonnene Mobilität noch als Befreiung empfunden. Endlich unabhängig von Fahrplänen mobil sein, ohne in engen Zugabteilen neben wildfremden Menschen sitzen zu müssen. Die seit dieser Zeit herrschende Trennung zwischen individuellem und öffentlichem Verkehr könnte bald der Vergangenheit angehören. Denn die Ingenieure sechs verschiedener Fachbereiche der Universität Paderborn arbeiten unter der Leitung von Professor Dr.-Ing. Joachim Lückel an einem völlig neuen Konzept für den Schienenverkehr.

Viele kleine Waggons

Danach startet der ICE nicht mehr in Hamburg Richtung München, sondern viele einzelne kleine Waggons, Shuttles genannt, fahren auf Anforderung selbstständig zu den Kunden und holen sie an den nächstgelegenen Bahnhöfen, U- und S-Bahn-Stationen in Hamburg und Umgebung ab. Von dort aus fahren sie ohne Zwischenstopp zu den Zielbahnhöfen. Unterwegs treffen sie andere Shuttles, die ebenfalls nach München wollen, und bilden eine berührungslose Fahrgemeinschaft um Energie zu sparen. Wer an seiner Weiche zum Zielbahnhof ankommt, schert aus, der Rest fährt weiter.

Diese Vision, die aus einem Science-fiction-Film stammen könnte, ist auf den Rechnern des Paderborner Instituts für Mechatronik schon Realität. Clemens Ettingshausen, Diplom-Mathematiker, erläutert das Konzept: „Wir wollen das Beste vom Transrapid, der herkömmlichen Bahn und der modernen Fördertechnik verbinden und ein schnelles, individuelles und billiges Verkehrsmittel schaffen. Die Trennung zwischen Nah- und Fernverkehr sowie zwischen Güter- und Personenverkehr wird dabei aufgehoben."

Der Abschied vom alten „Lok-zieht-Waggons-Prinzip" erfordert eine völlig neue Technik für Antrieb, Aufbau und Steuerung der Shuttles. So ersetzt ein zweirädriges Spurführungsmodul die schweren herkömmlichen Drehgestelle und ein elektronisch gesteuertes Feder- und Neigemodul sorgt für eine aktive Schwingungsdämpfung, die die Shuttles auch auf unebener Strecke erschütterungsfrei gleiten lässt.

„Wir sparen Gewicht", erläutert Ettingshausen, „indem wir auf tonnenschwere Loks verzichten. Die Shuttles benötigen auf Grund ihrer leichten Bauweise und Antriebstechnik deutlich weniger Energie."

Der Shuttle-Innenraum lässt sich variabel als Reiseabteil oder als Konferenzraum mit allen Möglichkeiten moderner Kommunikationstechnik einrichten. In zehn Jahren soll der erste Shuttle-Prototyp fertig sein, der in der Serienfertigung nicht mehr als ein heutiger Van kosten soll.

Teststrecke für Linearantrieb

In den Laboren auf dem Paderborner Campus wird auf einer etwa zehn Meter langen Versuchsstrecke der vorgesehene Linear-Antrieb getestet, der im Transrapid bereits seine Tauglichkeit bewiesen hat. Ein Schlitten, bepackt mit Steuerungselektronik und dem Läufer des Linearmotors, fährt auf Rollen über zwei Schienen. Dazwischen liegen in einer Reihe die Statoren, der unbewegliche Teil des Motors. „Anders als bei der Magnetschwebebahn, lassen wir das Gewicht des Shuttles auf den Rädern, beziehungsweise den Gleisen ruhen. Wir brauchen den Linearmotor nur für den Antrieb und nicht auch noch zum Schweben. Dadurch sparen wir Energie", erklärt der Mathematiker.

Die Shuttles sollen führerlos und vollautomatisch mit 160 Kilometern pro Stunde durch das Schienennetz fahren. Eventuelle Gewöhnungsprobleme sehen die Paderborner Ingenieure dabei nicht. „Schon heute fahren in Großstädten wie Paris oder Tokio führerlose U-Bahnen, und die Fahrgäste nehmen den Unterschied gar nicht wahr", gibt Ettingshausen zu bedenken.

Keine Angst vor Hindernissen

Selbst Hindernisse auf den Gleisen, wie etwa umgestürzte Bäume, lassen die Inge nieure kalt. „Ein ICE mit Tempo 200 hat einen einen Kilometer langen Bremsweg, der Lokführer kann gar nicht so weit vorausschauend reagieren", erklärt der Diplom-Mathematiker. Die Shuttle-Strecken würden mit moderner Sensorik ausgestattet, zudem hätte jedes Fahrzeug einen wesentlich kürzeren Bremsweg.

Güter- und Personen-Shuttles werden in gemischten Konvois unterwegs sein, doch der Gütertransport soll überwiegend in verkehrsarmen Zeiten erfolgen, um die Netzauslastung zu verbessern. Die modular aufgebauten Shuttles werden minutenschnell umgerüstet und gehen mit ihrer Ladung voll automatisch auf die Reise, die auf dem Gleisanschluss der Fabrik enden kann, die die Waren bestellt hat.

Die gigantischen Datenmengen die bei der Steuerung der Shuttle-Armada anfallen, wollen die Ingenieure mit der Beschränkung auf das Wesentliche in den Griff bekommen. Angefangen bei den Sensoren an den Gleisen und der Steuerung des Linearmotors, über die Bordelektronik des Shuttles bis hin zur Positionskontrolle des Fahrzeugs über das Global Positionning System (GPS) werden jeweils nur die wichtigsten Parameter übermittelt. Ettingshausen veranschaulicht das Prinzip am Beispiel des Internets: „Wenn sie eine E-Mail abschicken, wird sie von einem Server zum anderen weitergereicht, bis sie schließlich im Zielrechner ankommt. Genauso werden wir mit den Shuttles verfahren, die statt über Rechner über bestimmte Wegstrecken ans Ziel gelotst werden."

Das Shuttle-System soll in einer Übergangsphase parallel zum herkömmlichen Bahnbetrieb funktionieren. Das Betriebsleitsystem der Bahn, dass im Moment nur in der Lage ist, die Position einzelner Züge auf fünf Kilometer genau zu bestimmen, wird in Zukunft mit der GPS-Technik die Lage der Züge im Zentimeterbereich erkennen. Die Zwischenräume können die Shuttles nutzen, die sich nach Bedarf in die Lücken schieben und die Strecke am Ziel-Bahnhof wieder verlassen.

Doch bevor diese Vision Realität wird, machen die Paderborner Ingenieure ihre Hausaufgaben. Auf der Wiese neben dem Institut entsteht für 6,4 Millionen Mark aus Landesmitteln eine Teststrecke im Maßstab von 1 : 2,5. Später könnte es zum Beispiel eine Shuttle-Verbindung zwischen dem Hella-Werk in Lippstadt und Paderborn geben. „Erst wenn wir in umfangreichen Pra xistests Erfahrungen gesammelt haben", sagt Ettingshausen, „werden die ersten Versuche mit dem neuen System auf dem regulären Bahnnetz folgen." Tsp

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