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Schule

© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Schul-Dschungel (1): Qual der Wahl

Was ist besser: die Kiezschule um die Ecke oder eine Schule mit besonderem Profil? Keine leichte Entscheidung für Eltern. Die Suche bereitet Mühe, feste Regeln gibt es nicht. Und: Bloß nicht nur auf einen guten Ruf vertrauen.

Francesca schüttet hastig noch ein paar Kekse auf den Teller, damit es mit dem Kaffeetrinken schnell geht an diesem Nachmittag. In einer halben Stunde darf sie zum Geigenunterricht. Sie sagt tatsächlich: „Ich darf.“ Auch in ihre Schule, die Peter-Petersen-Grundschule, geht die Neunjährige gern. Sie hat schlimme Schulerfahrungen gemacht, als sie anderswo eine Vorklasse besuchte, erzählt, dass sie damals von älteren Schülern verhauen wurde. „An jener Schule gibt es ein Gewaltproblem, das alle dort totschweigen“, sagt Francescas Mutter Antje Meister. Als dann auch noch von einem sexuellen Übergriff auf einen Jungen die Rede war, nahm sie Francesca von der Schule.

Die Berliner Bildungswirklichkeit macht es Eltern nicht leicht, eine gute Schule für ihr Kind zu finden. Francescas Fall zeigt, dass selbst bei durchdachter Schulwahl ein Restrisiko bleibt. Antje Meister suchte sich bewusst eine Europaschule aus, an der ihre Tochter schon in der Grundschule die Muttersprache ihres Vaters hätte lernen können. Als Frau Meister sich diese Schule zum ersten Mal ansehen wollte, bekam sie rasch einen Termin. Schulleiter und Lehrer empfingen sie freundlich. Was folgte, sagt die Mutter, sei nicht vorhersehbar gewesen. Erst heute fallen ihr Warnzeichen auf, etwa, dass kaum jemand offen war für Anfragen, die Aufforderung an die Eltern, das Schulgebäude möglichst nicht zu betreten. Über die eigentlich nicht gut beleumundete Schule um die Ecke hörten die Meisters von befreundeten Familien hingegen Überraschendes: Francescas Freunden aus dem Kinderladen schien es dort gut zu gehen. Die nächstgelegene Kiezschule kann also besser sein als ihr vielleicht längst überholter Ruf.

Früher gab es zur Schule um die Ecke keine Alternative. Berliner Kinder mussten an die Grundschule, die ihnen die Verwaltung zuwies. Eltern konnten allenfalls Ausnahmeanträge stellen. Beispielsweise, wenn sie sich für den Unterricht in einer musikbetonten Klasse entschieden hatten. Musik- oder Sportbetonung zählen zu den seltenen besonderen Profilen, die es schon vor zehn Jahren gab.

Inzwischen hat sich vieles verändert. Immer mehr Grundschulen bemühen sich um einen speziellen Charakter, ein besonderes Profil. Schule ist nicht mehr gleich Schule. Dazu passt, dass das neue Schulgesetz den Bezirken die Möglichkeit gibt, Kindern nicht mehr nur eine Schule zuzuweisen, sondern ihnen die Wahl zwischen mehreren innerhalb eines sogenannten Sprengels zu lassen. Der Bezirk Mitte hat von dieser Neuregelung Gebrauch gemacht. Aber auch hier sind nicht alle Eltern zufrieden, denn es kann passieren, dass man an der nächstgelegenen Schule keinen Platz mehr findet, weil sich dort jetzt auch andere Familien aus dem weiteren Umkreis, dem Sprengel eben, anmelden können. Auf der sicheren Seite ist, wer zahlt und einen Platz an seiner privaten Wunschschule erhält, denn an öffentlichen Schulen mit gutem Ruf gibt es meist mehr Bewerbungen als freie Plätze.

In Neukölln ist die Peter-Petersen-Grundschule solch ein Fall. Sie ist in Berlin einer der Vorreiter des jahrgangsübergreifenden Lernens (JüL). Gelernt wird nach dem Vorbild des dänischen Reformpädagogen Peter Petersen in kleinen Gruppen. Die Schüler erfahren je nach Begabungsstufe eine individuelle Förderung. Ein solches Angebot zieht natürlich viele Neuköllner Eltern an, zumal es auch zum Profil gehört, Müttern und Vätern gegenüber dialogbereit zu sein. JüL ist gefragt, ein Platz an einer solchen Schule kaum zu bekommen. Die Umwelttechnologie-Ingenieurin Antje Meister hatte jenes Quäntchen Glück. Letztlich wurde Francesca nur genommen, weil sie als Hochbegabte eine Jahrgangsstufe überspringen konnte. In den ersten Klassen waren keine freien Plätze mehr. Francesca begann in der zweiten Klasse.

Zwar gibt es in Berlin genügend hervorragende Schulen, allerdings nicht in jedem Kiez. Thomas Trettin hatte sofort ein schlechtes Gefühl bei der Grundschule, an der er seinen Sohn Simon vor sechs Jahren anmelden sollte, weil sie in deren Einzugsgebiet wohnten: „Der Migrantenanteil in den Klassen dort war sehr hoch, aber es ging nicht unbedingt multikulturell zu“, findet er. Die Trettins entschieden sich für die Peter-Petersen-Schule, von der sie, wie auch die Meisters, heute regelrecht schwärmen.

Und sie tricksten, um ihren Sohn an der Schule ihrer Wahl unterzubringen – wie viele andere Familien: In Berlin gibt es keinen Einschulungstermin, bei dem sich nicht unzählige Eltern „ummelden“, um pro forma im Einzugsbereich der Wunschschule zu wohnen. Noch vor einigen Jahren ließ sich die Einschulung an einer ungeliebten Kiezschule ausschließlich so umgehen.

Können Eltern hundertprozentig sicher sein, dass die Wunschschule wirklich so gut ist wie erwartet? Allenfalls durch viel Eigeninitiative. Grundschulen öffnen sich stärker als früher, manche mausern sich aber auch weitgehend unbemerkt. Besser ist es, sich zunächst einmal mit der zugewiesenen Kiezschule auseinanderzusetzen. Sie könnte besser sein als erwartet und hätte den Vorzug des kurzen Schulweges.

Sauberkeit ist beispielsweise ein verlässlicher Indikator für das Engagement der Rektoren. Andererseits könnte das Schulgebäude auch nur schmuddelig aussehen, weil der Bezirk finanziell nicht dafür sorgt, dass der Bau instand gehalten werden kann. Da ist auch ein engagiertes Kollegium machtlos. Im Zweifelsfall sollte das pädagogische Konzept wichtiger sein als Äußerlichkeiten, sagt Schulberaterin Birgit Koß. Transparenz und ein für das Lernen förderliches Klima sind letztlich entscheidender als bauliche Mängel, aber auch als besondere Angebote. Antje Meister etwa lebt inzwischen gut damit, dass ihre Tochter an der Peter-Petersen-Grundschule nicht Italienisch lernen kann.

Bei der Entscheidung für eine Schule kommt es darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. „Wir haben uns erst einmal überlegt, welchen Unterricht wir für unser Kind wollen“, sagt Thomas Trettin. Simon sei ein sensibler Junge und verhalte sich in fremder Umgebung sehr schüchtern. Deshalb erschien den Eltern die Peter-Petersen-Schule so überzeugend, weil dort Wert darauf gelegt werde, das Selbstbewusstsein der Schüler zu stärken. Dass dies die richtige Wahl war, erkennt Trettin, wie er sagt, an vielen Kleinigkeiten. Etwa daran, dass sein Sohn voller Freude beim Schultheater mitspielt.

Die Herausforderung ist, die zur Persönlichkeit des Kindes passende Schule zu finden. Die Erwachsenen müssen entscheiden, die Kinder allein können das nicht tun. „Das ist eindeutig Elternsache“, sagt Manuela Ließegang, deren Kinder ebenfalls die Peter-Petersen-Grundschule besuchen. „Meine Tochter Hannah hätte nur dorthin gewollt, wo die meisten ihrer Freunde hingehen.“ Das ist tatsächlich kein Kriterium, findet auch Schulberaterin Birgit Koß. „Wirkliche Freundschaften bestehen weiter, wenn die Kinder verschiedene Schulen besuchen. Außerdem ergeben sich in diesem Alter schnell neue Kontakte.“ Die Regel für Eltern lautet also: Keinen Aufwand bei der Schulwahl scheuen – gerade bei der Einschulung des ersten Kindes. Hat man nämlich ein Kind an der Schule seines Vertrauens untergebracht, gilt ab sofort wieder die alte Regel, dass auch die Geschwister dorthin gehen dürfen. Auch Francescas Bruder Emilio und Simons Schwester Rebecca fühlen sich an der Peter-Petersen-Schule wohl.

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