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Bildung: Das Turbo-Abitur wird gebremst

Das achtjährige Gymnasium gilt bundesweit als Problem. In Hamburg ist es das Wahlkampfthema Nummer eins.

Überforderte Kinder, gestresste Lehrer, besorgte Eltern: Ist das „Turbo-Abitur“ ein Fehlstart? Ab dem kommenden Sommer soll es die Schüler in fast allen Bundesländern in acht Jahren statt bislang neun Jahren zur Hochschulreife und damit früher an die Uni und in den Beruf führen. Vorangetrieben wurde die Schulzeitverkürzung von den Ländern auch, um Lehrerstellen sparen können. In 12 Jahren von der Einschulung bis zum Abitur – was international Standard ist, wird in Deutschland derzeit heiß diskutiert.

In den meisten Ländern sei „G 8“, das achtjährige Gymnasium, eine „unausgewogene und völlig verhunzte Reform“, sagt die stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer. Die Schulpolitik habe es versäumt, den Unterricht in Ganztagsschulen neu zu organisieren und ein pädagogisches Konzept mit Lern- und Ruhephasen einzuführen.

Weil bislang weder die von der Kultusministerkonferenz (KMK) vorgeschriebene Mindeststundenzahl von 265 Jahreswochenstunden zwischen der 5. und der 12. Klasse gekürzt, noch die Lehrpläne entsprechend entschlackt wurden, haben die Kinder eine übervolle 34- bis 36-Stunden-Woche. Ganztags Schule bis in den Nachmittag – allerdings meist ohne die Möglichkeiten, die Ganztagsschulen bieten, kritisieren Eltern und Gewerkschaften. Nicht alle Gymnasien haben Schulkantinen, in vielen werden nur Snacks angeboten.

Kinder und Jugendliche gehen dem „Turbo-Abitur“ oft hungrig und gestresst entgegen. Acht oder neun Stunden am Stück überforderten die Schüler, sagte der Bielefelder Bildungsforscher Klaus Hurrelmann der „Osnabrücker Zeitung“. Zwischen 12 und 14 Uhr sei es aus biologischen Gründen unmöglich, Höchstleistungen zu bringen. Eine gute Schule nutze die Phasen hoher Konzentrationsfähigkeit am Vor- und Nachmittag – sie rhythmisiert den Unterricht.

In Hamburg zeigt sich in diesen Tagen, wie ein von der Bildungspolitik lange vernachlässigtes Schulthema im Wahlkampf hochkochen kann, wie zuvor schon in Hessen und Niedersachsen. Um das verkürzte Gymnasium wird derzeit am heftigsten gestritten, im Wahlkampf spielen auch andere Bildungsthemen eine wichtige Rolle – die Einführung einer Gemeinschaftsschule oder die Studiengebühren. Nach einer vom NDR in Auftrag gegebenen Infratest dimap-Umfrage sind 70 Prozent der wahlberechtigten Hamburger mit der Bildungspolitik des Senats unzufrieden. Bildung ist danach das wichtigste Thema. „Gute Schul- und Bildungspolitik“ erwarten 35 Prozent von der SPD, von der CDU nur 27 Prozent.

„Wir beenden das Schulchaos“, verspricht denn auch SPD-Kandidat Michael Naumann. CDU-Schulsenatorin Alexandra Dinges-Diering und Bürgermeister Ole von Beust seien „verantwortlich für eine verkorkste Schulreform und die Einführung des Turbo-Abiturs bei gleichbleibenden Lehrplänen“.

In der Hamburger Schulbehörde kann man die Aufregung um „G 8“ nicht verstehen. „Wir sind entspannter aufgestellt als alle anderen Länder“, sagt Sprecher Alexander Luckow. 2002/2003 habe die Hansestadt die verkürzte Schulzeit als erstes westliches Bundesland eingeführt, und inzwischen „sind alle 67 Gymnasien Ganztagsschulen, haben Kantinen und sind rhythmisiert“, sagt Luckow.

Von echten Ganztagsschulen könne in Hamburg bisher keine Rede sein, widerspricht der GEW-Vorsitzende Bullan. Bislang sei die Rhythmisierung Fehlanzeige: Mit der Verkürzung der Schulzeit sei lediglich eine etwas längere Mittagspause gewährt worden. „Zwischendurch mal eine Sportstunde“ – darauf beruft sich Behördensprecher Luckow – mache noch keine Ganztagsschule. Die klassische Fächerfolge sei beibehalten worden, sagt Bullan. Die Lehrergewerkschaft will in Hamburg zurück zur neunjährigen Gymnasialzeit. An der verkürzten Schulzeit festhalten sollten nur Gymnasien, die sich als echte Ganztagsschulen organisieren. GEW-Vize Demmer kritisiert zudem, dass die meisten Länder die gesamte Last der Schulzeitverkürzung der 5. bis 9. Klasse aufgeladen hätten.

Anfang der Woche sagte die Hamburger Schulsenatorin, sie habe schon 2007 gemeinsam mit dem Saarland eine Initiative gestartet, die Mindeststundenzahl von 265 um bis zu 14 Stunden zu senken. Dies sei aber am Widerstand Bayerns und Baden-Württembergs gescheitert.

Mittlerweile aber kommt Bewegung in die Sache. Nach Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff macht sich jetzt auch Baden-Württembergs Landeschef Günther Oettinger (beide CDU) für Stundenkürzungen stark. KMK-Präsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Bildungsministerin im Saarland, hat sich zwar gegen die vorgeschlagenen Streichungen in den Naturwissenschaften ausgesprochen. Sie ist aber offen für eine Straffung der Lehrpläne und Unterricht auch am Sonnabend, um die Stundenpläne zu entzerren. Bei der KMK heißt es, im Dezember 2007 habe der Schulausschuss eine Umfrage zu Erfahrungen mit G 8 gestartet, die jetzt ausgewertet würde. Das Thema werde voraussichtlich bei der nächsten KMK-Sitzung am 6. und 7. März diskutiert.

Die von Kramp- Karrenbauer geforderte Entrümpelung der Lehrpläne und die von Oettinger angeregte Hausaufgabenhilfe in der Schule seien in Hamburg schon auf dem besten Weg, sagt Behördensprecher Luckow. Bis zum Beginn des nächsten Schuljahres würden alle Rahmenpläne von detaillierten Beschreibungen der Inhalte und Aufgaben in Skizzen der Kompetenzen umgeschrieben, die die Schüler am Ende einer Klassenstufe beherrschen sollen.

In Geschichte etwa werde der Lehrplan für die 9. Gymnasialklasse von 14 Seiten auf eine Seite reduziert. Und Ende 2007 hätten die Gymnasien Honorarmittel für Hausaufgabenhelfer bekommen. Ähnliche Maßnahmen verkündete die umstrittene hessische Bildungsministerin Karin Wolff (CDU). In dieser Woche werde die Zahl der Stunden am Nachmittag in den 5. bis 7. Klassen „deutlich eingeschränkt“. Und bis Mitte März sollen die Gymnasien melden, in welchen Klassenstufen der Stoff nicht oder nur mit erheblichen Anstrengungen zu schaffen sei.

Der Hamburger Schulstreit geht indes weit über G 8 hinaus. Zwar werben CDU und SPD im Wahlkampf für die Einführung der „Stadtteilschule“. Darin sollen bis 2010 alle Hauptschulen und Realschulen sowie Gesamtschulen vereint werden. Dazu kommen alle beruflichen Gymnasien und Aufbaugymnasien. Denn die mit Klasse 4 beginnende Stadtteilschule soll in 13 Jahren zum Abitur führen.

Während die CDU daneben aber das Gymnasium langfristig erhalten will, beschreibt die SPD in ihrem Wahlprogramm das Fernziel der „einen Schule für alle“. Bürgermeister-Kandidat Naumann hat allerdings versprochen: „Wenn ich Bürgermeister werde, wird es auch weiter Gymnasien geben – und zwar bessere.“

Wie explosiv das Schulthema im Wahlkampf ist, erfuhr Dinges-Diering am Donnerstag: In der Tageszeitung „Welt“ schlug sie vor, den Sonnabend wieder als Schultag einzuführen, um den Stundenplan zu entzerren. Bürgermeister von Beust kritisierte dies als „Privatmeinung“ und verteidigte das „Familien-Wochenende“. Die GEW sprach von „familienfeindlichem Unsinn“ und Naumann forderte Beust auf, die Schulsenatorin umgehend zu entlassen.

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