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Smartphones sind in den Schulen allgegenwärtig: Es wird gechattet, fotografiert - und gemobbt.

© Doris Spiekermann-Klaas

Bildung in Berlin: „Cybermobbing gehört zum Schüleralltag“

Mehr als ein Fünftel aller Schüler sind schon über das Internet gedemütigt worden – oft mit verheerenden Folgen. Was man gegen Cybermobbing tun kann und wie Eltern und Lehrer helfen können, erklärt Medienexperte Michael Retzlaff.

Herr Retzlaff, das Phänomen Cybermobbing wurde 2011 mit dem Skandal um die Internetplattform „Isharegossip“ in der Öffentlichkeit bekannt. Damals verbreiteten Jugendliche auf der Seite anonym Gerüchte, es gab Amokdrohungen und Gewalttaten. Isharegossip ist mittlerweile stillgelegt. Cybermobbing gibt es weiterhin. Welche Ausmaße hat es?

Es ist ein Dauerthema: Konflikte und Mobbing im Internet sind inzwischen leider zum festen Bestandteil der medialen Alltagswelt von Heranwachsenden geworden. Es betrifft aber nicht nur Schüler, sondern auch Erwachsene, es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wissenschaftliche Statistiken variieren bei der Frage nach dem Ausmaß von Cybermobbing. Man kann davon ausgehen, dass 20 bis 30 Prozent der Schüler Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht haben. Es beginnt bereits im Grundschulalter. Nach den Ergebnissen der aktuellen JIM-Studie (Jugend, Information und Multimedia) ist die Gruppe der 16- bis 19-Jährigen am häufigsten Opfer von Cybermobbing-Attacken. Kinder und Jugendliche wachsen in einer medial und technologisch geprägten Welt auf, die alle Lebensbereiche durchdringt. Darauf müssen wir neue pädagogische Antworten finden, als Eltern und als Lehrer.

Was ist das Besondere an Cybermobbing?

Das Mobbing, das wir von früher kennen, endete in der Regel am Schultor, wenn der Täter und das Opfer getrennte Wege gingen. Cybermobbing findet dagegen rund um die Uhr statt, es gibt keinen Rückzugsort mehr. Dazu kommen viele, oft anonyme Zuschauer, die es verstärken, wenn sie mitkommentieren oder das Material teilen. Und wenn die Gerüchte, Hasskommentare, demütigenden Fotos oder Videos einmal online sind, lassen sie sich kaum noch stoppen.

Auf welchen Plattformen wird gemobbt?

Auf allen Kanälen, die die Schüler nutzen: Whatsapp, Snapchat, Facebook, Instagram, auch auf Youtube.

Wie fängt es an?

Das sind oft Banalitäten: ein peinliches Foto wird irgendwo hochgeladen, ein blöder Spruch gepostet. Ich glaube nicht, dass allen Täter klar ist, was das für das Opfer bedeutet. Sie halten es eher für einen Witz. Die Anonymität des Netzes führt dazu, dass Empathie zunehmend verloren geht.

Welche Auswirkungen hat Cybermobbing auf die Opfer?

Für die ist es eben kein Witz. Manche reagieren mit körperlichen Symptomen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen. Sie können sich nicht mehr konzentrieren und haben eine Lernblockade. Jemand, der so etwas erlebt, kann weder den Satz des Pythagoras verstehen noch die Gründe für die deutsche Einheit nachvollziehen. Viele haben nur noch ein ganz geringes Selbstwertgefühl. Sie pflegen keine Freundschaften mehr. Absolute Isolation ist die Endstufe. Gruselig.

Jugendliche erzählen ihren Eltern nicht alles. Was sind Anzeichen, dass ein Kind betroffen ist?

Wenn sich das Kind zurückzieht, nicht mehr oder nicht mehr so häufig online ist, wenn es nicht in die Schule gehen will oder nicht mehr zu Partys eingeladen wird, können das Warnzeichen sein.

Wie können Eltern dann helfen?

Wichtig ist, dass die Eltern dem Kind ihre Solidarität signalisieren. Am schlimmsten wäre es, wenn sie dem Kind die Schuld geben, den Vorfall herunterspielen und dann vielleicht noch ein Handyverbot aussprechen. Stattdessen sollten sie das Kind unterstützen, sich zu wehren: Beweise sammeln, Screenshots machen, Kontakt zur Schule aufnehmen und den Fall vortragen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Bei schwerwiegenden Fällen sollten Eltern gegebenenfalls Anzeige bei der Polizei erstatten. Man muss auch an den Provider herantreten und ihn verpflichten, das Material offline zu nehmen.

Was kann man im Vorfeld tun?

Eltern sollten Anteil an den digitalen Aktivitäten des Kindes nehmen. Sich mal die Lieblingsseiten im Netz zeigen und erklären lassen und nicht alles negativ bewerten. Dann kann man auch darüber sprechen, worauf man achten sollte. Dass man zum Beispiel nicht alle Informationen preis gibt.

Was raten Sie betroffenen Jugendlichen?

Sie brauchen jemanden, dem sie sich anvertrauen können. Das kann ein Freund sein, Eltern oder Lehrer. Wenn das Mobbing schon im Gang ist, fällt es vielen schwer, sich zu Hilfe zu suchen. Deshalb ist es wichtig, dass die Jugendlichen schon wissen, an welche Lehrer oder Sozialarbeiter sie sich wenden können. Schulen können einen anonymen Briefkasten einrichten. Es gibt auch eine Onlineberatung von Jugendlichen für Jugendliche, juuuport.de heißt die Seite, die sehr zu empfehlen ist.

Was Schulen und Lehrer tun können

Was können Schulen und Lehrer tun?

Sie sollten Strategien zur Prävention und Intervention entwickeln. Im neuen Rahmenlehrplan ist das Basiscurriculum Medienbildung als fächerübergreifendes Thema vorgeschrieben, und zwar ab Klasse 1. Es ist also die Aufgabe der Lehrer, sich damit zu beschäftigen. Schüler sollen sich zum Beispiel mit den Chancen und Risiken der eigenen Mediennutzung auseinandersetzen. Erst denken, dann posten – das sollen die Schüler lernen.

An der Bettina-von-Arnim-Schule in Reinickendorf haben Sie ein Pilotprogramm gegen Cybermobbing durchgeführt.

Ja, mit dem Projekt „Cybermobbing ist nicht cool“ haben wir 2012 begonnen. Ich wollte eine Schule begleiten, die unsere Erkenntnisse zur Prävention und Intervention in den Alltag überträgt. Wir haben das Programm gemeinsam mit Schülern, Lehrern und Eltern entwickelt und eine hohe Zustimmung von allen bekommen. Die gemeinsame Ausgestaltung ist wichtig, sonst funktioniert es nicht.

Welche Erkenntnisse haben Sie aus dem Projekt gewonnen?

Die Schule und alle dort Beteiligten sollten gemeinsam die Regeln erarbeiten, sich dem Problem stellen und eine klare Haltung gegen Cybermobbing zeigen. Es ist enorm wichtig, bei den Schülern anzufangen, die neu in die Schule kommen, in diesem Fall die Siebtklässler. Das ist die kritische Masse. Die Eltern werden gleich auf einem Infoabend sensibilisiert und bekommen Tipps. Die Schüler setzen sich im Projektunterricht damit auseinander. Sie unterschreiben eine Selbstverpflichtung zum respektvollen Umgang im Netz, wonach sie versprechen, zu helfen, wenn jemand online belästigt wird. Außerdem wurde das absolute Handyverbot, das es früher an der Schule gab, aufgehoben. Stattdessen ist der Gebrauch nun nach bestimmten Regeln erlaubt. Das ist sinnvoller als ein Verbot, das regelmäßig missachtet wird.

Welche Aufgabe haben die Lehrer?

Wir haben eine Gruppe von Lehrern fortgebildet und qualifiziert. Sie sind jetzt als Steuerungsgruppe in der Schule tätig und können anderen Lehrern helfen. Sie haben eine Handlungsanweisung und einen Aufnahmebogen erarbeitet, die im Notfallordner der Schule abgelegt sind. Viele Lehrer sind ja immer noch überfordert, wenn sie merken, dass in ihrer Klasse jemand von Cybermobbing betroffen ist.

Im Zuge der Isharegossip-Diskussion sprachen Sie von den Lehrern als „Generation Plattenspieler“, die über die Internetwelt der Schüler viel zu wenig wissen. Hat sich das inzwischen geändert?

Der Fortbildungsbedarf ist immer noch groß, aber das Problembewusstsein ist zum Glück gestiegen. Inzwischen haben wir auch sehr viel Unterrichtmaterial und Fortbildungen im Angebot. Im Dezember erscheint unsere neue umfangreiche Handreichung „Cyber-Mobbing ist nicht cool – Projektbericht und Handlungsempfehlungen“ für Maßnahmen der Prävention und Intervention bei Vorfällen von Cyber-Mobbing“, die an alle Schulen verteilt wird. Alle Schulen müssen sich dieser Herausforderung stellen.

Das Gespräch führte Sylvia Vogt.

Michael Retzlaff.
Michael Retzlaff.

© Christa Penserot/Lisum

Michael Retzlaff, 64, leitet das Referat für Medienbildung beim Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (Lisum), das Fortbildungen und Lehrmaterial entwickelt.

Wo es Beratung gibt

BERATUNGSSTELLEN

Jugendliche können sich auf der Internetseite www.juuuport.de beraten lassen – von Jugendlichen, die sich zu Scouts ausbilden ließen. Eltern finden Hilfe bei den schulpsychologischen Beratungszentren, die es in jedem Bezirk gibt. Für Lehrer gibt es Material und Unterstützung beim Landesinstituts für Schule und Medien (Lisum): http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/themen/medienbildung/jugendmedienschutz1/sicherer-umgang-mit-internet-und-handy/cyber-mobbing.

FACHTAGUNG

Am 30. November findet im Lisum (Struveweg 1, Ludwigsfelde) die 4. Fachtagung für Lehrer und pädagogische Fachkräfte zum Thema „Cyber-Mobbing ist nicht cool“ statt, bei der Praxisbeispiele zu Prävention und Intervention und Unterrichtsmaterial vorgestellt werden.

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