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Schüler der Clay-Schule bei archäologischen Grabungen auf dem Gelände, auf dem einmal ihr neues Schulgebäude stehen soll.

© Mike Wolff

Clay-Schule in Berlin-Rudow: Gelände mit Geschichte

Schüler der Clay-Schule graben Reste eines Zwangsarbeiterlagers aus. Dort wird ihre neue Schule gebaut – mit 33 Jahren Verzögerung.

Hier soll mal eine Schule entstehen, aber noch sieht man davon nichts auf dem Gelände des ehemaligen Eternit-Werkes am Neudecker Weg in Rudow. Cindy, Lisa, Nicole und Katja aus der 11. Klasse der Clay-Schule stehen mit Arbeitshandschuhen und Schutzwesten, Werkzeug und Schippen in einer Vertiefung auf dem Gelände. Ihre Schule, die seit 25 Jahren in provisorischen Containern untergebracht ist, soll hier mal ein neues Gebäude bekommen. Bis vor Kurzem dachten sie noch, 2019 sei es endlich soweit. Letzte Woche wurde dann wie berichtet bekannt, dass sich die Bauzeit bis 2022 hinziehen wird. Von den jetzigen Schülern wird niemand das neue Gebäude beziehen können, von den heutigen Lehrern nur die Hälfte.

Aber die Schülerinnen sind jetzt auch nicht gekommen, um eine Baustelle zu besichtigen. Sie sind hier, um nach Hinterlassenschaften aus der NS-Zeit zu suchen: 1500 Menschen waren hier von 1943 bis 1945 in einem Zwangsarbeiterlager untergebracht. Seit 2011 ist bekannt, dass auf dem zukünftigen Schulgelände ein Zwangsarbeiterlager stand. Man schätzt, dass es zwischen 1000 und 3000 solcher Lager in Berlin gab. Die Männer und Frauen des Rudower Lagers arbeiteten in neun nahegelegenen Firmen und Fabriken der Arbeitsgemeinschaft Rudow, darunter für die Deutsche Asbestzement AG. Die Unternehmen hatten sich zur Unterhaltung von Zwangsarbeiterlagern zusammengeschlossen und waren auch an Bau- und laufenden Lagerkosten beteiligt. Eine noch vorhandene NS-Baracke auf dem Gelände, das sogenannte Wirtschaftslager III, steht seit 2013 unter Denkmalschutz, soll aber wegen Asbestablagerungen aus der Nachkriegszeit abgerissen werden. Sie ist in Plastikplanen gehüllt.

Ein Nuckelteil einer Trinkflasche: Auch Kinder könnten im Lager gelebt haben

Besteck, Stacheldraht. Es sind Überreste eines Zwangsarbeiterlagers.
Besteck, Stacheldraht. Es sind Überreste eines Zwangsarbeiterlagers.

© Mike Wolff

Sie sollen die Erde und den Dreck entschieden in einem Zug wegkratzen, und nicht zu vorsichtig mit dem Besen nur leicht drüberfegen, redet Archäologe Gregor Döhner vom Berliner Archäologischen Grabungs- und Forschungsservice Archaeofakt den Schülerinnen ins Gewissen. „Sonst verwischt alles“, sagt er.

Bald sammeln sich Porzellanscherben, Löffel, Drahtstücke und ein Schuhabsatz aus der Zeit vor 1945 in den Eimern der Schülerinnen. Die Fundstücke geben Anhaltspunkte über das Leben im Lager: Ein Kantinenlöffel wurde gefunden, ein Stück Aluminium, in das behelfsmäßig Löcher gebohrt sind, so dass es an eine Kartoffelreibe erinnert. Die Zwangsarbeiter kamen unter anderem aus Polen, Belgien und Holland, auch französische Kriegsgefangene waren darunter. Das bräunliche Nuckelteil einer Trinkflasche aus der Zeit lässt darauf schließen, dass auch Kinder im Lager lebten.

Auf der Unterseite einer Schüssel ist ein Hakenkreuz und der Schriftzug "Schönheit der Arbeit"

Unter den Funden sind auch kleine Glasfässer, vermutlich aus den Dienststuben, mit noch flüssiger Tinte und eine Dienstbrille eines Wehrmachtssoldaten. Die Scherben von Schüsseln kennen die Archäologen bereits aus Konzentrationslagern wie Ravensbrück oder Sachsenhausen. Das Geschirr wurde einheitlich produziert und in verschiedene Lager geliefert. Auf ihrer Unterseite ist ein Hakenkreuz zu sehen und der Schriftzug des Amtes „Schönheit der Arbeit“.

Aus Scherben lässt sich ein Zifferblatt zusammensetzen.
Aus Scherben lässt sich ein Zifferblatt zusammensetzen.

© Mike Wolff

Seit August ist das sechsköpfige archäologische Team auf dem Gelände aktiv. Im Oktober sollten die Grabungen abgeschlossen sein. Ein Bericht mit einer Auswertung der Funde soll bis Ende des Jahres vorliegen. Neue Funde aus der Zeit um 150 bis 200 nach Christus könnten weitere Grabungen nötig machen.

14 Schüler der Clay-Schule hatten sich bereits im Januar während einer Projektwoche mit Zwangsarbeit beschäftigt. Sie besuchten das Museum Neukölln, das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin in Schöneweide und Denk mal an Berlin e.V. in Kreuzberg. Dort waren sie die ersten, die mit einem neuen, für den Unterricht entwickelten Materialkoffer zum Thema gearbeitet haben. Zum Tag des offenen Denkmals im September haben sie die Ergebnisse ihrer Projektwoche direkt auf dem zukünftigen Schulgelände präsentiert, erzählt Geschichtslehrer Norbert Suratny.

Zwangsarbeiter aus dem Osten bekamen nur die Hälfte der Essensration

Das Tagebuch eines Mannes aus der ehemaligen Sowjetunion blieb Cindy und Lisa besonders im Gedächtnis: Darin beschreibt er den täglichen Weg zur Arbeit, dass er nicht mit Passanten sprechen durfte und die kargen Essensrationen. Als „Ost-Arbeiter“ bekam er die Hälfte eines westeuropäischen Zwangsarbeiters. Einer der Mitschüler, der selbst russisch als Muttersprache hat, konnte ohne Übersetzung im Tagebuch des Gefangenen lesen. „Wie müde er war“, sagt Cindy, „wie lebensmüde“. Über das weitere Schicksal der Zwangsarbeiter weiß man noch wenig. Einzelne Zeitzeugen berichten von der Rückkehr in die Heimatländer.

Im neuen Schulgebäude soll an die Zwangsarbeiter erinnert werden. Ein Informations- und Gedenkort ist geplant. Fundstücke könnten ausgestellt werden, oder ein Teil des Grabens, in dem besonders viel gefunden wurde, unter Glas präsentiert. Cindy findet, das Thema sollte gleich in der 7. Klasse besprochen werden. Damit die Schüler die Geschichte ihrer Schule kennen und wissen: „O.k., hier war mal was.“

Mehr über den Materialkoffer Zwangsarbeit: www.denk-mal-an-berlin.de/jugend/materialkoffer-zwangsarbeit.html

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