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Schule: Dabei sein ist alles

Rund 500 Schulhelfer kümmern sich in Berlin um Kinder mit Behinderung. Einen Helfer zu bekommen, ist jedoch schwierig

Plötzlich ist nur noch der Radiergummi wichtig. Raphael steckt ihn immer wieder in den Mund und kaut. „Den darfst Du nicht essen, sonst wird dir schlecht“, warnt seine Klassenkameradin Lena freundlich. Aber Raphael hört weder auf sie noch auf seine Lehrerin Carmen Artzig. Stattdessen fegt der Siebenjährige auch noch all die kleinen Lernkärtchen, die vor ihm auf dem Tisch liegen, auf den Fußboden.

Die JüL-Klasse der Jahrgangsstufen eins und zwei der Franz-Marc-Grundschule in Tegel hat Deutschunterricht. Die Klasse ist für die Stunde geteilt, deshalb sitzen nur sechs Kinder an einem großen Tisch. Fünf von ihnen konzentrieren sich auf Wörter, die mit A anfangen. Ein Apfel, eine Ananas, ein Affe – auf den kleinen Kärtchen sind sie als Bilder zu sehen. Auch das sechste Kind, Raphael, hat eine Weile brav mitgemacht: „Affel“ heißen Apfel und Affe bei ihm. Seine Schulhelferin Sabine Gleichner sitzt direkt neben ihm, hält ihm die Karten hin, motiviert ihn. Nach einer viertel Stunde jedoch ist es vorbei mit der Konzentration: Die Kärtchen fliegen vom Tisch. „Raphael braucht jetzt eine Pause“, sagt Sabine Gleichner und bringt ihn in einen anderen Raum, in dem es Spielgeräte und eine Kuschelecke gibt.

Ohne Schulhelferin könnte Raphael nicht in eine normale Grundschule gehen. Denn der kräftige Junge ist mit einer geistigen Behinderung auf die Welt gekommen – mit dem Down-Syndrom. Geistig ist er etwa auf dem Stand eines Dreijährigen, körperlich jedoch eher groß und kräftig. 24 Stunden pro Woche verbringt die 38-jährige Sozialarbeiterin Gleichner mit Raphael. Meist ist sie den ganzen Schultag an seiner Seite: Sie hilft ihm beim Auspacken des Pausenbrots und auf der Toilette. Sie sorgt dafür, dass Raphael die anderen Kinder nicht zu sehr bedrängt. „Er ist sehr körperlich und kann damit noch nicht so gut umgehen.“ Manchmal rauft sie ein bisschen mit ihm, wenn er überschüssige Energie loswerden muss. Dann ist er besonders gut gelaunt. „Wir Schulhelfer leisten auch Beziehungsarbeit“, sagt Sabine Gleichner.

Rund 500 Schulhelfer tun das in Berlin – viele davon bei Kindern, die eine Eins-zu-Eins-Betreuung brauchen. Vier von ihnen sind an der Franz-Marc-Grundschule im Einsatz. Aber die Beziehungen zu den Kindern können selten lange wachsen. Jedes Schuljahr müssen die Helferstunden neu beantragt werden: „Es gibt immer diese Ungewissheit, ob wir an den Schulen und bei den Kindern bleiben können“, sagt Sabine Gleichner.

Zu den Winterferien schied einer der Schulhelfer an der Franz-Marc-Schule aus. Zunächst sah es so aus, als ließe sich nicht so leicht ein Nachfolger finden. Die Elternvertreter der Schule, darunter auch Raphaels Mutter Claudia Schirocki, beschwerten sich bei der Senatsverwaltung. Dann fand sich doch Ersatz.

„Die Eltern müssen sich oft sehr dafür einsetzen, dass ihr Kind überhaupt einen Schulhelfer bekommt“, sagt Monika Scheele Knight vom Verein Elternzentrum Berlin, der Familien mit behinderten Kindern hilft. Monika Scheele Knight hat selbst einen Sohn, der einen Helfer benötigt. Der Drittklässler ist autistisch, kann nicht sprechen und braucht wie Raphael eine Eins-zu-Eins-Betreuung. „Sonst wird er in der Schule nur aufbewahrt.“ Im vergangenen Jahr bekam er dennoch keine Helferstunden bewilligt. Seine Mutter zog vors Sozialgericht – mit Erfolg.

„Down-Syndrom oder Autismus werden nicht über die Sommerferien geheilt“, sagt Urs Elssel vom freien Träger Tandem, der für die Vermittlung der meisten Schulhelfer in Berlin zuständig ist. „Bei klaren Beeinträchtigungen wäre eine Bewilligung für mehrere Jahre nötig.“ So könne man den Kindern mehr Kontinuität bieten – und die sei wichtig für sie.

Um solche Verbesserungsvorschläge geht es derzeit an einem Runden Tisch (siehe Kasten), der vom Landeselternausschuss (Lea) und der Senatsbildungsverwaltung ins Leben gerufen wurde. Auch das Elternzentrum ist beteiligt. Der Unmut bei Eltern und Schulen war immer größer geworden – vor allem, seit im vergangenen Herbst eine neue Verwaltungsvorschrift für die Verteilung von Schulhelferstunden eingeführt wurde und damit weitere Probleme auftauchten. „Seit nicht mehr die Senatsverwaltung, sondern die Bezirke zuständig sind, gibt es keinen Spielraum mehr im Budget“, sagt Monika Scheele Knight. „Aber in manchen Bezirken gibt es eine totale Unterversorgung mit Schulhelfern.“

Auch Urs Elssel sieht ein weiteres Problem: „Die Anträge werden sehr unterschiedlich behandelt.“ Die Entscheidungen kämen ihm oft sehr subjektiv vor. „In manchen Bezirken legt man keinen Wert darauf, Schulhelfer für Kinder mit emotional-sozialem Förderschwerpunkt bereitzustellen. Da hält man Verhaltensstörungen für ein Problem der Familien.“ Anderswo halte man Autisten und Kinder mit geistiger Behinderung nicht für die Integration in Regelschulen geeignet. „Da besteht die Angst, dass gute Schüler runtergezogen werden“, sagt Urs Elssel.

An der Franz-Marc-Grundschule ist das nicht der Fall – das sieht man auch in der wöchentlichen Kochstunde, die Sabine Gleichner sich ausgedacht hat, um Raphaels Motorik zu fördern. Eine kleine Gruppe Mitschüler darf zusammen in die Schulküche, um etwa Zahlen aus Blätterteig zu backen oder die Trauben zu zählen, die in den Obstsalat gemischt werden. Raphael kommt nun fast schon bis zehn – mit kleinen Fehlern und mit ein wenig Unterstützung der anderen. „Es macht einfach mehr Spaß, wenn Raphael dabei ist“, sagt seine Schulfreundin Lena.

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