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Schule: Der menschliche Faktor

Schon die Häufung von Schildern kann uns aus der Fassung bringen und zum Unfall führen: Ein Fall für Wahrnehmungspsychologen

Wie lange dauert eine Schrecksekunde? Die im ersten Moment etwas albern anmutende Frage könnte in einem TV-Quiz vielleicht zu einem schönen Gewinn verhelfen. Im richtigen Leben freilich, also auf der Straße und mitten im Verkehr, könnte es bei einer Fehleinschätzung schnell um Leben oder Tod gehen.

Denn der Schreck, oft ausgelöst durch unscheinbare Kleinigkeiten am Straßenrand und rund ums Auto oder Motorrad, dauert einschließlich der Umstellung des Fahrverhaltens nicht selten bis zu zehn Sekunden. Zeit genug, um bei einem Tempo von 100 Stundenkilometern an die 300 Meter voranzupreschen – vom verdatterten Fahrer ziemlich unkontrolliert.

In dieser ersten Phase kann der Mensch am Steuer gar nicht oder nur eingeschränkt reagieren. Wie blind und lahm saust er in sein Unglück, gerät in die Straßenmitte oder an den Straßenrand, kommt ins Schleudern oder versäumt es, rechtzeitig zu bremsen. Das mehr oder minder unbewusste Fehlverhalten am Anfang mündet in Fahrfehler und diese in nicht wenigen Fällen in Unfälle.

Über Jahre hinweg sind Wahrnehmungspsychologen von der „Intelligenz System Transfer Potsdam GmbH“, eine unter einem Dutzend gleichgeformter Gruppen in ganz Deutschland, besonders unfallträchtigen Strecken, Kreuzungen und Ortsumgehungen nachgegangen. Auftraggeber waren das zuständige Ministerium für Infrastruktur und die Behörde für Straßenwesen in Brandenburg.

Bei der Analyse von 690 Unfällen in der Mark, großenteils wegen erheblicher Schadensfolgen bereits im „Brandenburgischen Expertensystem zum Analysieren und Dokumentieren von unfallauffälligen Strecken-Abschnitten“ (BASTA) erfasst, stellten die sieben Wahrnehmungsexperten unter Leitung von Diplom-Psychologin Dr. Sybille Birth fest, dass 391 Unfälle, also deutlich mehr als die Hälfte, auf menschliche Unzulänglichkeiten, sogenannte Human Factors, zurückzuführen waren.

Von 5000 Fehlhandlungen am Autosteuer, etwa aufgrund falsch oder zu kurz vor der Gefahrenstelle angebrachter Verkehrszeichen oder ungünstig gestalteter oder bepflanzter Straßenabschnitte, führen 500, so die Formel der Psychologen, zu Fahrfehlern und schließlich 20 zu mehr oder minder schweren Unfällen. Auch Unfallprognosen lassen sich mit der Formel errechnen, und zwar mit einer frappierenden Genauigkeit von 65 Prozent, wie Sybille Birth sagt.

Das Human-Factors-Konzept wurde einst für die korrekte Bedienung von Waffen eingeführt, dann für den Flugzeugbau übernommen und schließlich auch für die Entwicklung kerntechnischer Anlagen. Laut Gründer der Intelligenz-System-Transfer, Georg Sieber, der in den Sechzigern der Münchner Polizei beim Entschärfen der Krawalle und Demos half, soll nun mithilfe des Human- Factors-Prinzips die „Lesbarkeit der Straße“ und das „Blickfeldmanagement“ verbessert werden.

Denn schon die Häufung von fünf verschiedenen Straßenschildern, die Bepflanzung einer Kurve auf der falschen Seite oder die Troglage einer Straße können einen Fahrer aus der Fassung bringen. Und selbst eine völlig übersichtliche, öde Geradeausstrecke oder ausgedehnte Nebelschwaden führen wegen Überlastung oder Unterforderung oft zu einer „Highway hypnosis“.

Zur Unfallprävention wurden bislang vor allem zwei Schnittstellen gehätschelt: Einmal die zwischen Auto und Straße. Da hat man immer mehr Fahrerassistenzsysteme wie ABS, ESP oder Adaptive Cruise Control (ACC) entwickelt. Zum Zweiten die zwischen Fahrer und Fahrzeug – hier kümmert man sich um die Ausstattung mit edlem Holz und feinem Leder, designt Gerüche, feilt am Klang von Auspuff und Türen. Spät erst hat man Thema Nummer drei entdeckt: Die Forschung an der Schnittstelle zwischen Fahrer und Straße.

Das Interesse ist entsprechend groß. Die Potsdamer Psychologen tragen ihre Human-Erkenntnisse längst in alle Welt. Sybille Birth veranstaltete dieses Jahr einen Workshop in Peking. Georg Sieber: „Die Chinesen waren sehr beeindruckt.“ Internationale Straßentagungen in Paris, Wien und Sevilla schlossen sich an.

Der erste Kontaktmann bei den Brandenburger Behörden, Ministerialdirigent Hans-Joachim Vollpracht, kam in Sachen Straßen erst nach seiner Pensionierung so richtig in Fahrt und kümmert sich jetzt über PIARC (Permanent International Association of Road Congress) weltweit um die Sicherheit des Straßenverkehrs und ist bei den vielen internationalen Tagungen mit dabei. „Brandenburg hingegen“, so bedauert die Psychologin Birth, „rudert vorerst noch zurück.“

Auch die EU mit ihren jährlich 1,4 Millionen Verkehrsunfällen, 1,8 Millionen Verletzten und 40 000 Toten hat das schmerzliche Thema inzwischen entdeckt und trat Anfang des Jahres mit ihrer „Intelligent Car Initiative“ an die Öffentlichkeit. In Brüssel wurden 28 futuristische Fahrzeuge mit Antikollisionsradar vorgestellt, die bei Gefahr vollautomatisch die Bremsen betätigen. Ein „Road Safety Action Plan“ soll die Zahl der Verkehrstoten bis 2010 um die Hälfte senken.

Der Münchner Psychologe Sieber empfindet derlei Vorhaben für sicherere Autos nicht als Konkurrenz: „Perfekte Autos, die über die Niagarafälle fahren können, wären vielleicht auch nicht schlecht.“ Weil sich der Straßen-Check ohnehin noch „zehn Jahre hinziehen“ wird, hat er sich inzwischen auf andere Tätigkeitsfelder begeben. Außer der „bayerischen Todesstrecke“ von München zum Wallfahrtsort Altötting, wo er längst „alle 50 Meter einen schweren Baufehler“ festgestellt hat, kümmert er sich nun um die Panikfestigkeit der Fußballstadien („Weltweit über 1000 tote Fußballfans – schon so gut wie vergessen“) und des Petersplatzes in Rom („Tadellos und völlig paniksicher“).

Ohnehin lässt sich die Quote der Toten und der Verletzten auf den Straßen bei 50 Millionen Fahrzeugen allein in Deutschland wohl nicht mehr auf null bringen – es sei denn durch einen totalen Stillstand durch Stau oder eine Rückkehr zur guten alten autolosen Zeit. Und gemächlicher war sie ja auch.

Hannibal, der vorchristliche Feldherr aus Karthago, nahm sich mit seinen 37 Elefanten von den Alpen bis Rom sieben Jahre Zeit. Johann Wolfgang von Goethe liebte es auf seiner Italienreise, wenn die Postillions einschliefen, weil dann die Pferde derart ungezügelt lostrabten, „dass einem Sehen und Hören verging“ und man so „fortkömmt mit unglaublicher Schnelle“ – nämlich mit weniger als sieben Stundenkilometern.

Gut hundert Jahre später, im April 1902, startete in Berlin, nun schon motorisiert, der niederschlesische Schriftsteller Otto Julius Bierbaum „durchs Tempelhofer Feld hinaus über Zossen, Baruth, Luckau, Elsterwerda“, wie er in seinem Buch über seine „Empfindsame Reise im Automobil“ penibel notierte – „fast immer mit Gegenwind kämpfend“ und auf der Straße „behindert durch unruhige Pferde“.

Andere Autos gab es noch kaum. So war Bierbaum mit seinem Phaeton (benannt nach dem Sohn von Helios, Patron der antiken Kutscher) aus der Frankfurter Fahrradfabrik Adler – acht PS, ein Zylinder, drei Gänge – allein auf weiter Flur. In Italien begegnete er nur einem einzigen Auto, bei Arezzo, zwischen Florenz und Perugia.

So einsam und gottverlassen in unberührter Natur werden sich die Autofahrer nie mehr bewegen – es sei denn in den Werbespots der Autobauer.

Heinz Höfl

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