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Schule: Die Paten von Neukölln

Kein Talent darf verloren gehen: Bei der Bürgerstiftung werden Studenten zu Mentoren wissbegieriger Schüler

Sehnsüchtig blickt die kleine Gülnaz in Anjas Richtung. Sie mag die 24-jährige Studentin, das zeigen ihre leuchtenden Augen. Dabei kennen sich die beiden erst seit einer Stunde. In der haben sie gemeinsam mit Gülnaz jüngerem Bruder Celik „Mensch ärgere Dich“ nicht gespielt. Jetzt unterhält sich Anja jedoch mit einem anderen Mädchen. Die 10-jährige Gülnaz beobachtet die beiden, kaut traurig auf ihrer Unterlippe. Ein grübelnder Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Einer, der fragt, wie sie wohl Anjas Aufmerksamkeit auf sich lenken kann.

„Meiner Tochter gefällt die Anja, das sehe ich, aber jetzt muss sie sich gedulden“, sagt die Mutter von Gülnaz, Zeinep Rohat. Beim Spielenachmittag des Patenschaftsprojekts „Neuköllner Talente“ beschnuppern sich nicht nur Gülnaz und Anja, sondern noch neun weitere Neuköllner Kinder und fast doppelt so viele Studenten. Sie alle wollen eine Patenschaft für eines der Kinder übernehmen und dafür einen Teil ihrer Freizeit investieren. Gemeinsam lesen, musizieren oder ins Museum gehen: In zwei bis drei Stunden pro Woche zeigen die von der Bürgerstiftung Neukölln ausgewählten Talentpaten den Kindern neue Lebensbereiche. Es ist ein bisschen wie bei einer Partnerbörse“, sagt Projektleiterin Idil Efe. Ihr Ziel ist es, „die Träume der Kinder kennenzulernen und zu verwirklichen“. Denn gerade in einem Bezirk wie Neukölln sei es wichtig, Kinder zu fördern, wenn sie noch jung seien.

Efe sitzt ein wenig abseits und trinkt Tee mit ein paar Eltern. Einmal im Mittelpunkt zu stehen, das tue den Kindern gut. „Denn sie entscheiden, wer ihr Pate wird. Vorausgesetzt natürlich, der will auch.“ Die 33-Jährige muss schmunzeln, als Gülnaz Mutter ihr zuflüstert, dass sich ihre Tochter wohl schon für eine Patin entschieden habe. Doch der Nachmittag ist noch lang und ob Anja später wirklich einmal Gülnaz Patin werden wird, ist noch nicht entschieden.

„Jedes Kind hat ein Talent im Sinne von Gaben, Wünschen und Interessen – auch die Kinder aus Neukölln“, davon ist Efe überzeugt. Wie beispielsweise die siebenjährige Meltem, die so gerne tanzen und Klavier spielen lernen will und deren Mutter sich den Unterricht nicht leisten kann. Oder der hochbegabte Sahi, der Schwierigkeiten hat, Anschluss zu finden. „Ich sehe hier Kinder, die permanent die Erfahrung machen, nicht dazuzugehören, ob das jetzt ökonomisch oder kulturell bedingt ist“, sagt die 33-Jährige. Sie habe selbst erfahren, wie sehr ein anderes soziales Umfeld die eigene Entwicklung beeinflussen kann.

Die Deutschtürkin ist in Kreuzberg aufgewachsen und hat ein Gymnasium in Tempelhof besucht. Das von der „Aktion Mensch“ geförderte Talent-Projekt richtet sich an Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, die neugierig sind und Fragen haben, die ihnen ihre Eltern nicht oder nur begrenzt beantworten können. Zwischen einem halben Jahr und einem Jahr sollen sich die Paten und die kleinen Talente treffen und in einem Online-Tagebuch ihre Erfahrungen dokumentieren. Die Bürgerstiftung steht den Paten unterstützend zur Seite, und einmal im Monat gibt es ein Patentreffen für den gemeinsamen Austausch. Um die Studenten bei ihren Unternehmungen finanziell zu entlasten, gibt es 20 Euro im Monat.

Den Aufwand, den Projektleiterin Efe betreibt, um die Kinder zu finden, ist groß. In Schulen, Jugendeinrichtungen, Wohnblocks und im Internet geht sie auf Kandidatensuche. Die 33-Jährige muss viel Überzeugungsarbeit leisten. Denn nicht alle Eltern sind von der Idee überzeugt, ihr Kind einem fremden Paten anzuvertrauen. Außerdem muss Efe erklären, dass Schulbildung alleine nicht genügt, um den sozialen Aufstieg zu schaffen. „Es geht nicht nur um gute Schulnoten, sondern darum, den Kindern neue Werte zu vermitteln. Man muss ihre Begeisterung wecken. So begreifen sie auch, dass Lernen Spaß machen kann.“

„Idil kann man vertrauen. Sie weiß, was zu tun ist“, sagt der Vater von Gülnaz und Celik, Mehmet Bingöl. Dieses Gefühl habe er gleich gehabt, als er die 33-Jährige im Hof seines Wohnblocks habe sprechen hören. In Neukölln hätten viele Familien resigniert. Wer es schaffe, ziehe weg, weil die Kinder hier einfach keine Chance hätten. „Es ist schön, dass die deutschen Studenten etwas mit unseren Kindern unternehmen wollen und keine Vorurteile haben. Sie könnten ihnen Dinge erklären, die uns nicht möglich sind.“

Als Paten hat die Projektleiterin vor allem Studenten im Blick, die die Funktion eines „großen Bruders“ oder einer „großen Schwester“ übernehmen sollen. „Ich habe von meinen Eltern alles bekommen, vom Klavier- bis zum Tennisunterricht. Jetzt will ich etwas zurückgeben“, begründet Susanne Rechenbach ihr Engagement. Es sei ein kleiner Schritt in Richtung Chancengleichheit, sagt Anja Huballah, dafür gebe sie gerne ein Stück ihrer Freizeit her.

Potenzielle Paten, Lehrer, Eltern und interessierte Kinder, die neugierig sind und Fragen haben, finden weitere Infos im Internet unter www.neukoelln-talente.de oder unter www.neukoelln-plus.de. Telefonkontakt: 030/627 38 014

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