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Dokumentiert: Offener Brief an Senator Zöllner

Berlin, den 17. April 2010 Sehr geehrter Herr Senator, es brodelt rund um die Berliner Grundschule.

Berlin, den 17. April 2010 Sehr geehrter Herr Senator, es brodelt rund um die Berliner Grundschule. Das Institut für Demoskopie Allensbach vergab in einer Studie, die Ende März veröffentlicht wurde, mittelmäßige Noten für die Schulpolitik der Länder. Im Rahmen der normalen Schulnotenskala erhielt Berlin eine blamable 3,9. Wen wundert da die Unzufriedenheit auf allen Ebenen? Es werden Brandbriefe geschrieben, nachdem die auf den Dienstwegen an den Senator geschriebenen Protestbriefe ins Leere gelaufen sind. Initiativen und der Wunsch nach Runden Tischen mehren sich, Aufrufe zum Boykott von VERA werden verfasst, ein Volksbegehren zur Ausweitung der ganztägigen Betreuung auch in den Klassen 5 und 6 soll auf den Weg gebracht werden. Aber Warnungen, dass in den Berliner Schulen – auch in den Grundschulen - vieles schief läuft, sind nicht neu. Statt der angestrebten inklusiven Schule, in der alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrem Wohnort oder ihren individuellen Lernvoraussetzungen - die besten Chancen auf individuelle Förderung haben, greifen inzwischen immer mehr Auslesemechanismen. Die öffentlichen Grundschulen in Berlin – insbesondere die Schulen in den sozialen Brennpunkten – entfernen sich trotz allen Engagements und trotz aller Reformanstrengungen vor Ort immer mehr davon, eine gute Schule für alle Kinder zu sein. Wer es sich in Berlin leisten kann, versucht seine Kinder an Privatschulen unterzubringen. Dort genießen diese Eltern niedrige Frequenzen und können sich sicher sein, dass der Schulalltag des eigenen Kindes nicht übermäßig belastet wird von Lern- und Verhaltensschwierigkeiten der sogenannten Unterschichtskinder. Hinzu kommen meist besser ausgestattete Klassenräume und Schulgebäude. Eine Entmischung findet statt: Die Mittelschichtskinder bleiben in gut ausgestatteten Schulen unter sich und die Risikokinder bleiben in weit schlechter ausgestatteten öffentlichen Schulen ebenfalls unter sich. Einzelne Schulen in den sozialen Brennpunkten reagieren in ihrer Not und im Wettbewerb um die deutsche Mittelschicht wider besseres pädagogisches Wissen: So planen bereits einige Schulen die schulinterne Selektion nach Sprachstand gleich beim Eintritt in die Grundschule. Mit „Deutsch Garantie-Klassen“ und zusätzlichen Profilangeboten sollen Klassen in sozialen Brennpunkten wettbewerbsfähig gemacht werden. Was den einen möglicherweise beim Lernen nutzt, sortiert aber gleichzeitig die aus, deren vor der Schule erworbener Sprachstand mangelhaft ist. Mit dem Aussortieren geht es danach weiter: Erst kürzlich wurde die niederschmetternde Zahl von 518 Wiederholern im dritten Schulbesuchsjahr – insgesamt in der Grundschule fast 1000 - bekannt gegeben (Ergebnis des Schuljahres 2008/9). Noch liegt dem Grundschulverband keine genauere Analyse der Ursachen und Zusammenhänge vor. Wir warnen aber davor, ohne Kenntnis der Zusammenhänge das jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL) in Bausch und Bogen zu verdammen. Die Einführung des jahrgangsübergreifenden Lernens hat in vielen Schulen eine gute Entwicklung in Gang gesetzt. Der Unterricht in solchen Lerngruppen kann aber nur gelingen, wenn in den Schulen geeignete Räumlichkeiten mit kind- und schülergerechter Ausstattung vorhanden sind. Die Planung und Gestaltung von jahrgangsübergreifendem Unterricht ist aufwändig und ein durchaus komplexes Unterfangen. Die Lehrer(innen) müssen vielfältig unterstützt werden, den hohen Anforderungen gerecht zu werden und die innovativen pädagogischen Prinzipien der flexiblen Schulanfangsphase müssen ab Klasse 3 konsequent weitergeführt werden. Die alarmierend hohen Zahlen an Kindern, die ein Jahr länger in der Schulanfangsphase verbleiben, ein Schuljahr wiederholen oder bei VERA keine ausreichenden sprachlichen und mathematischen Kenntnisse bzw. keine akzeptable Lesekompetenz vorweisen können, zwingt alle Akteure im Bildungswesen, sich intensiver mit der in Berlin immer größer werdenden „Unterschicht“ zu beschäftigen. Die Anzahl der Risikokinder muss mit vereinten Kräften in absehbarer Zeit massiv reduziert werden. Ob nun VERA in veränderter Form, in längeren Zeitabständen oder speziell in einer Sonderform für die Kinder der Unterschicht durchgeführt wird, bringt uns nicht wirklich weiter. Bei den Analysen der VERA-Testergebnisse der letzten Jahre ist hinlänglich geklärt worden, dass Kinder nichtdeutscher Herkunft in allen Testteilen auffallend schlechter abschneiden. Die Mehrheit der Migrantenkinder in dieser Stadt gehört auch zu den Hartz IV Kindern. Es ist längst überfällig, den Teufelskreis von armen Kindern und armen Schulen in den sozialen Brennpunkten zu durchbrechen! Wir geben der Einschätzung von Prof. Jörg Ramseger (FU Berlin) im Tagesspiegel recht: Die „Dramatik der sozialen Brennpunkte“ werde noch nicht ausreichend berücksichtigt. Selbstverständlich muss die „Betreuungslücke“ in den offenen Ganztagsschulen in den Klassenstufen 5 und 6 geschlossen werden. Was ist es ansonsten für ein Unsinn, nur den Kindern bis zur Klassenstufe 4 ein ganztägiges Betreuungsangebote zu machen und dann erst wieder ab Klassenstufe 7. Selbstverständlich können Kinder in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen und auch Kinder im Alter von fünfeinhalb Jahren erfolgreich in Grundschulen gefördert werden. Und selbstverständlich brauchen Lehrer(innen), aber auch die für das Schulwesen verantwortliche Senatsverwaltung regelmäßig Erhebungen zum Leistungs- und Könnensstand von Kindern und Jugendlichen. Es besteht aber auch ein Bedarf an einer differenzierten Erfassungen zur Leistungsfähigkeit der Einzelschule und des gesamten Schulwesens. Inspektionen, die – ebenso wie die alljährlichen VERA Berichte – allein darauf abzielen, die Schuld für mangelhafte Leistungsergebnisse bei den Pädagog(innen) zu suchen und diese nach der Erhebung mit den aufgezeigten Problemen alleine lassen – sind im Sinne einer qualitativen Verbesserung wenig förderlich bzw. hilfreich. Die Schulen in den sozialen Brennpunkten brauchen nachhaltige Unterstützung. Der Grundschulverband fordert: Die Auswirkungen der langjährigen Sparpolitik in den Grundschulen müssen endlich beseitigt werden, d. h. es muss Schluss sein mit der Unterfinanzierung des Primarschulwesens. Grundschulkinder brauchen – insbesondere in den sozialen Brennpunkten - kleine Klassen und schulische Räume, die den Ansprüchen einer ausgleichenden, auf individuelle Förderung abzielenden Pädagogik gerecht werden. In der jahrgangsgemischten Schulanfangsphase soll das Zweilehrer/innen-Prinzip die Regel sein. Alle Kinder brauchen die Sicherheit, dass zu jedem Zeitpunkt Unterricht und pädagogische Förderung durch gut ausgebildeten Lehrer(innen) und Erzieher(innen) stattfindet. Konkret: Dem Personalausfall ist eine verlässliche Vertretungsreserve mit ausgebildeten Fachkräften vor Ort entgegenzusetzen, d. h. jede Schule braucht 105 % Personalausstattung, Das Instrument der Personalkostenbudgetierung (PKB) ist nur hilfreich, wenn es um die Vertretung von längerfristig erkrankten Lehrer(innen) oder Erzieher(innen) geht. Schulen – insbesondere in den sozialen Brennpunkten der Stadt - brauchen kompetente und in den Schulalltag der Einzelschule eingebundene wirksame Unterstützungssysteme, d. h. vor Ort müssen die verschiedenen Akteure der Schulpsychologie, Sonderpädagogik und Sozialarbeit in enger Kooperation gemeinsam mit den Lehrer(innen) und Erzieher(innen) sicherstellen, dass kein Kind auf dem Weg zur Bildung verloren geht. Mit freundlichen Grüßen gez. Inge Hirschmann Vorsitzende der Berliner Landesgruppe des Grundschulverbandes

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