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Einschulung: Debatte um frühe Schulpflicht reißt nicht ab

Bald beginnen die Einschulungsuntersuchungen – Rückstellwünsche werden ignoriert, beklagen Eltern.

Das Spielen und Toben im Kindergarten wird für Niklas* (Namen geändert) nicht allzu lange dauern: Er ist im Dezember geboren und gehört deshalb zu den Berliner Kindern, die mit fünfeinhalb Jahren eingeschult werden. „Früh eingeschulte Kinder bekommen seltener eine Gymnasialempfehlung“, sagt jedoch seine Mutter Maria Hartmann* mit Hinweis auf entsprechende Studien. Sie könnten sich weniger gut konzentrieren und entwickelten Stresssymptome, so dass schlimmstenfalls bald eine Klasse wiederholt werden müsse. „Auf diese Weise werden die Kinder demotiviert“, befürchtet Hartmann.

In vier Wochen beginnen die Anmeldefristen für Grundschulkinder. Während viele Eltern schon Kontakt mit Schulen aufnehmen, haben einige ganz andere Sorgen: Sie wollen ihr Kind noch nicht einschulen. Weil es dem Druck noch nicht ausgesetzt werden soll, lieber spielt als still sitzt oder den Anforderungen ihrer Ansicht nach noch nicht gewachsen ist.

Seit 2005 wird in Berlin die frühe Einschulung ab fünfeinhalb Jahren praktiziert. Zunächst war auch die Rückstellung mangels Schulreife abgeschafft worden. Die Regelung wurde nach gehäuften Berichten über untragbare Zustände in den Anfängerklassen und mehr Patienten in der Kinderpsychiatrie im Januar 2010 wieder gelockert. Laut Schulgesetz ist sie nun wieder möglich, „wenn der Entwicklungsstand des Kindes eine bessere Förderung in einer Einrichtung der Jugendhilfe“, also etwa in einer Kita, erwarten lässt.

In der Praxis jedoch hapert es noch: Obwohl die Regelung bereits bei der letzten Einschulungsuntersuchung zum Tragen kam, die sich von November letzten Jahres bis in diesen Sommer zog, „haben wir bis heute keine klare Ansage von der Senatsverwaltung, wie wir mit der Regelung umgehen sollen“, sagt etwa Dietrich Delekat, Leiter des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes in Friedrichshain-Kreuzberg. Zahlen, wie viele Kinder seit der neuen Regelung rückgestellt wurden, gibt es laut Senatsverwaltung noch nicht.

Zwar gibt es eine bestimmte Punktzahl, die das Kind in den standardisierten Tests erreichen muss. Dennoch könne die Untersuchung des Entwicklungsstands eine andere Frage sein als die, ob das Kind in die Schule gehen soll oder nicht, so Delekat. Unklar sei etwa, ob der Elternwille eine Rolle spiele und nach welchen Kriterien die letztlich verantwortlichen Schulräte entscheiden, wenn etwa das Kind die für die Schule erforderlichen Fähigkeiten besitzt, die Eltern aber trotzdem eine Rückstellung wollen. Bei der Senatsverwaltung heißt es dazu: Eltern könnten einen Antrag stellen. „Letztlich jedoch entscheidet die regionale Schulaufsicht über eine Genehmigung der Rückstellung auf Grundlage der Stellungnahme der Kita, des schulärztlichen Gutachtens sowie gegebenenfalls eines schulpsychologischen Gutachtens.“

Die körperliche Entwicklung des Kindes jedenfalls spielt bei den Untersuchungen kaum noch eine Rolle. Entscheidend dabei sind sechs Tests zur motorischen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung, in denen die Kinder etwa Bilder abzeichnen oder Sätze nachsprechen müssen. „Gut entwickelte Kinder schaffen das leicht“, so Delekat.

Ob das Kind der Schule gewachsen ist, zeigt sich oft erst später. Die heute neun Jahre alte Sarah* etwa habe sich „riesig auf die Schule gefreut“, sagt ihre Mutter Liane Becker*. Bereits nach drei Wochen habe sich das allerdings geändert: Plötzlich fand Sarah die Schule „blöd und anstrengend“. Ihre Strategie war, aus dem Fenster zu gucken und zu träumen. Außerdem stellten sich chronische Bauch- und Kopfschmerzen und Durchfall ein.

Für die Familie sei das „eine Katastrophe“ gewesen, so Becker. Sarah versteckte sich, um nicht in die Schule zu müssen, im zweiten Schuljahr schließlich war sie zehn Wochen am Stück krank. Danach kam sie in die Reformnachhilfeschule Lernwerk. Seitdem, so Becker, klappe es besser. Die Rezepte des Lernwerks: „Ruhe reinbringen“, sagt Leiterin Swantje Goldbach, kindgerecht mit dem Kind umgehen. Und etwa die Chance nutzen, das Kind im „Jahrgangsübergreifenden Lernen“ ein Jahr länger verweilen zu lassen.

Die Debatte um das Für und Wider der frühen Einschulung reißt nicht ab. Zwar soll laut Senatsverwaltung am Einschulungsalter nicht gerüttelt werden. Der Vorsitzende des Landeselternausschusses Günter Peiritsch etwa spricht sich aber dennoch für die Rückkehr zur Einschulung ab sechs Jahren aus. Zu früh eingeschulte Kinder seien „schlicht und einfach nicht genügend vorbereitet“. Die ersten negativen Erfahrungen setzten sich für den Einzelnen in den Folgejahren fort – und auch die übrigen Kinder der Klasse würden benachteiligt, weil der Lehrer sich um die Kleinen kümmern müsse. Peiritsch kritisiert außerdem, dass der Antrag auf Rückstellung von den Eltern gestellt werden muss. Gerade wenn die Eltern bildungsfern seien, halte er das für schwierig.

Der grüne Bildungsexperte Özcan Mutlu sagt, dass fünf Jahre nach Einführung der frühen Schulpflicht „vielleicht festgestellt werden muss, dass es ein Schnellschuss war“. Der Grund, warum es viele Verweiler in der Schuleingangsphase und viele Sitzenbleiber in der dritten Klasse gibt, könne durchaus in der viel zu frühen Beschulung liegen. Er fordert die Evaluation der frühen Einschulung.

Die will auch Inge Hirschmann vom Grundschulverband, die wie Mieke Senftleben (FDP) die frühe Einschulung jedoch grundsätzlich befürwortet. „Das Problem ist allerdings, dass aus finanziellen Gründen keine ,Mindeststandards’ in diesen Klassen eingeführt wurden“, sagt Hirschmann – man müsse die Schulen besser ausstatten. Rückstellungen würden die Situation nicht per se verbessern.

Der Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz von der TU Berlin misst Rückstellungen ohnehin wenig Bedeutung zu: „Dieselben Kinder haben später dieselben Probleme“, sagt er. „Es ist ein Irrtum, den Apfel ein Jahr lang liegen zu lassen und zu glauben, danach sei er reif.“ Ein Jahr länger in der Kita zu bleiben, erlebten viele außerdem als Ablehnung. Wichtig sei vielmehr eine gute Frühförderung.

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