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Viele Lehrer lehnen den Vera-Test ab, weil er Migrantenkinder überfordere und entmutige. In der Erika-Mann-Schule sieht man das anders.

© Doris Spiekermann-Klaas

Grundschule: Tun, was den Kindern hilft

Protest gegen Vergleichstests? Nicht an der Erika-Mann-Grundschule, trotz der vielen Migrantenschüler. An der Schule im Problemkiez Wedding ticken die Uhren anders.

Von Caroline Fetscher

Die Tür zum Klassenraum steht offen, eine Schülerin drängt heraus, als sie auf dem Flur ihre Schulleiterin erkennt. „Frau Babbe!“, ruft die Neunjährige mit den langen, dunklen Haaren. „Ich krieg ’ne Zahnspange.“ Das Mädchen strahlt. Etwas derart Wichtiges muss man einfach mitteilen, das versteht die Schulleiterin sofort und verspricht ihr, dass sie dann später sehr schön aussehen wird. Zufrieden nickt das Mädchen. So wird es später sein, darauf scheint sie zu vertrauen.

Später, Zukunft. Darum geht es allen an der Erika-Mann-Grundschule im Berliner Problemkiez Wedding. Hier ticken jedoch die Uhren ein bisschen anders als an anderen Schulen. Man fürchtet sich hier auch nicht vor den Vergleichstests „VERA 3“ für Drittklässler. Unlängst kritisierte die „Initiative Grundschule in sozialen Brennpunkten“ diese Tests in einem Brandbrief, unterzeichnet von 1051 Lehrern, Schulleitern und Erziehern aus 53 Berliner Grundschulen. Da viele der Getesteten keine Muttersprachler sind, schneiden sie in Mathematik und Deutsch nun mal schlecht ab, das wollte man offenbar nicht noch statistisch und schwarz auf weiß vor Augen haben. Auf einen Aufruf zum Boykott der Tests verzichtete die Initiative, ihr Verdruss ist geblieben.

Unbeirrt hingegen erklärt Karin Babbe, Leiterin der Erika-Mann-Grundschule: „Vergleichstest liefern uns wertvolle Informationen.“ Dabei sind die Bedingungen auch an dieser Brennpunkschule typisch. Rund 600 Schülerinnen und Schüler aus 23 Nationen suchen an der Erika-MannGrundschule ihre Wege zu Lesen, Schreiben und Rechnen, zum Begreifen und Ergreifen von Chancen. 82 Prozent der Kinder sind nicht deutscher Herkunft, mehr als die Hälfte ihrer Eltern lebt von Hartz IV, 73 Prozent der Eltern sind ungelernt. In der Umgebung sieht man an einem Frühlingstag schon früh am Morgen Grüppchen erwerbsloser Männer auf Bänken hocken. Eine Frau, in der einen Hand die Zigarette, manövriert mit der anderen einen Kinderwagen. Neben ihr trottet wortlos ein Kleinkind. Als es stolpert, wird es angeschnauzt. In den Straßen finden sich viele Läden mit Möbeln und Kleidung aus zweiter Hand, auf den Märkten ist das Gemüse billiger als im Supermarkt.

Kinder können nichts für das Milieu, in das sie hineingeboren werden, erklärt Karin Babbe oft. Als „doppelte Halbsprachigkeit“ bezeichnet Babbe die Ausgangslage, in der diese Kinder eingeschult werden. Weder Türkisch oder Arabisch noch Deutsch beherrschen sie sicher. „Kinder in Brennpunkten brauchen mehr, sie haben grammatische Löcher im Kopf.“ Deshalb passt sich die Erika-Mann-Grundschule den Bedürfnissen dieser Kinder an. Das Kollegium hat aus dem alten Backsteinbau eine Oase gemacht, eine didaktisch wie ästhetisch durchdachte Insel der Bildung mitten im Kiez. Skulpturen und Sitzecken strukturieren das Innere des Baus. „Wir setzen Vertrauen in das Potenzial der Kinder“, erläutert Babbe das schlichte Prinzip. Nicht Defizite stehen hier im Vordergrund, sondern Ressourcen. Der Erfolg beweist: Das funktioniert. Aus der ganzen Welt kamen schon Besucher. 2008 wurde die Schule für den bundesweit ausgelobten Deutschen Schulpreis nominiert und erhielt den achten Platz. Leider, sagen einige Lehrer, interessieren sich Berliner Schulleiter weniger für uns als Experten aus dem Ausland.

Die Bedürfnisse der Kinder immer besser kennenzulernen, bedeutet, sich einzulassen auf einen dauerhaften, nie endenden Prozess. Darum, so sagt Babbe, die die Schule seit 1996 leitet, seien auch die Vergleichstests für alle dritten Klassen für das Kollegium Teil eines „externen Stützsystems“. Der Verständnisteil Deutsch wurde bereits geschrieben, es folgen am 4. Mai der Rechtschreibtest und am 6. Mai die Matheaufgaben. Anhand der Rückmeldungen können sie über die Resultate ihrer Methoden noch mehr erfahren. „Warum schneidet zum Beispiel in Deutsch Klasse 3a bei einer Aufgabe zehn Prozent besser ab als Klasse 3c? So etwas wollen wir dann herausfinden“, sagt Babbe. An dieser Grundschule hier betrachtet man die Ergebnisse des Tests furchtlos nicht als „Zensuren“, weder für Schüler noch für Lehrer, sondern als hilfreiche Hinweise für den internen Gebrauch. „Muster und Strukturen“ könne man da erkennen, sagt Babbe, die Mathematik und Sport studiert hat. „Alles zählt nur, wenn es beim Kind ankommt“, ist ihr Credo. Die an der Ostseeküste aufgewachsene Bäckerstochter, geboren 1955, ist alles andere als eine Pädagogik-Träumerin. Pragmatisch setzen sie hier an ihrer Schule einfach das um, was wirkt. Und sie wollen wissen, was noch besser wirkt.

Manche hocheffiziente Maßnahme kostet keinen einzigen Cent. Zum Beispiel die Pausenregelung. Zur Pause schrillt an der Erika-Mann-Grundschule keine Glocke. Ob der Unterricht ein paar Minuten länger oder kürzer dauert, entscheiden die Lehrenden je nach Lage. Von einem tosend aggressiven Schulhof in der Pause merkt man hier nichts. Es gibt vierzig Minuten lange „Pausenbänder“, in denen die Kinder entscheiden, wie sie diese verbringen: In den schwebenden Sesseln im Hörbuchraum, im „Puzzle-Raum“ mit Brettspielen oder Kniffeleien, in der Schülerbibliothek, der Werkstatt, dem Computerraum oder draußen auf dem begrünten Innenhof mit Kletternetz und Sandkasten. Die Regelungen verändern das ganze Lernklima, es wirkt ruhig an dieser Schule, konzentriert. Aber nicht stumm.

Gespräche gibt es den ganzen Tag, von morgens um acht bis abends um sechs, und gerannt wird auch, aber leise. Im Gebäude tragen alle Kinder Hausschuhe. Theater als spielerisches Sprachtraining ist Pflichtfach. Bis Klasse vier gibt es statt Noten verbale Beurteilungen. Die Vergleichstests kreativ zu nutzen, sie fruchtbar zu machen für Arbeit am Anforderungsniveau, das findet Babbe sinnvoll. „Und wenn mal eine Aufgabe vorkommt, die wir noch nicht hatten, dann falle ich nicht vom Stuhl“, beteuert sie.

In einer dritten Klasse übt die Deutschlehrerin Fragesätze, Ausrufesätze und Aussagesätze. „’Komm mit’ – was gehört da ans Satzende?“ Laura meldet sich und meint: „Ein umgekehrtes i.“ Genau, versichert die Lehrerin, und das nenne man wie? „Ausrufezeichen“ entschlüsselt es ein Junge. Die Lehrerin freut sich. Okay, da wurde etwas auf den Kopf gestellt, das enthielt aber trotzdem einen richtigen Gedanken. Den zu sehen, genau darauf kommt es an dieser Schule an.

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