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Inklusion: Ein Hauch normales Leben

Alle lernen gemeinsam, behindert oder nicht. So einfach klingt die Theorie der Inklusion, die im Alltag häufig alle an ihre Grenzen bringt: Schulen, Lehrer, Betreuer und Eltern, die für ihre Kinder kämpfen – und für mehr Selbstverständlichkeit.

Sophie schmiegt sich in ihre rosa Bettdecke. „Lässt du das an, Sophie?“, fragt Irmgard Ochsenknecht. Sophie antwortet nicht. Die Sonne scheint durch das offene Fenster. Der Lärm schreiender Kinder dringt herein. Sie spielen und lachen auf dem Schulhof, auf der anderen Straßenseite. „Sophie, du hast deine Socken schon wieder verloren.“ Sorgsam streift Irmgard Ochsenknecht die wärmende Wolle zurück auf Sophies leblose Füße. Erst den einen, dann den anderen, dann schiebt sie die Bettdecke beiseite. „Komm, Kopf hoch“, sagt Ochsenknecht und hebt ihre Tochter in den Rollstuhl. Unwillkürlich neigt sich Sophies zerbrechlicher Oberkörper nach vorn. Irmgard Ochsenknecht muss sie stützen. „Arme nach oben.“ Doch die dünnen Arme bleiben reglos liegen. Während es draußen vor dem Fenster zur dritten Schulstunde klingelt, zurrt Irmgard Ochsenknecht einen Gurt quer über Sophies lilafarbenen Pullover und befestigt das Mädchen in ihrem Sitz.

Zur Schule geht Sophie heute nicht. Schon seit fast einem Jahr ist das so. Die Zwölfjährige bekommt einen Platz in der Küche. Irmgard Ochsenknecht rückt einen Stuhl beiseite und schiebt den blauen Rollstuhl ihrer Tochter über die abgeschliffenen Dielen an den Tisch heran.

Im Jahr 2006 brachten die Vereinten Nationen eine Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf den Weg. Drei Jahre später unterzeichnete man auch in Deutschland das Papier für eine inklusive Gesellschaft. Eine, die ihre Regelschulen für alle Kinder öffnet und ihnen dort die bestmögliche Bildung zukommen lässt. Wenn alle gemeinsam lernen und keiner vom Unterricht ausgeschlossen wird, dann sprechen Experten von Inklusion. So klingt die Theorie.

In der Praxis nimmt Irmgard Ochsenknecht neben ihrer Tochter Platz und sagt: „Nicht allen Kindern werden Rechte zugesprochen.“

In Berlin werden bereits rund 40 Prozent der Schüler mit Förderbedarf inklusiv unterrichtet. Den Anteil weiter zu erhöhen ist Ziel des im vergangenen Jahr vorgestellten Inklusionskonzepts des Senats. Es sieht vor, die Zahl der reinen Förderschulen für Kinder mit Handicaps, Entwicklungs- oder Lernschwierigkeiten schrittweise zu reduzieren. Die Inklusion will das alte Modell der Integration weiterdenken. Warum soll man etwas erst auseinanderreißen, um es dann später mit viel Mühe wieder zusammenwachsen zu lassen?

Irmgard Ochsenknecht holt ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch hervor und tupft etwas Speichel von Sophies Kinn. Der Duft frisch gepflückter Wald- und Wiesenblumen erfüllt die schmale Küche mit den gelben Wänden und umhüllt die Vase auf der gelb karierten Tischdecke. 13 Minuten Sauerstoffmangel während der Geburt haben Sophie die Kontrolle über Arme und Beine geraubt. Die Schaltzentrale in ihrem Kopf hat einen Fehler. Sophies Gehirn sendet zu wenige Befehle an die Muskeln in ihrem Körper, Mediziner sprechen von Zerebralparese.

Irmgard Ochsenknecht spricht lieber über die Chancen ihrer Tochter an einer normalen Schule. Sie spricht von Inklusion in der Theorie. „Viele sehen nicht, was Sophie alles kann“, sagt sie. Einen Hauch von normalem Leben, das ist es, was sie sich für ihre Tochter wünscht. An einem Förderzentrum wäre sie in falschen Händen. Dort lernen die Kinder den Umgang mit Geld. Sie nähen, hämmern, sägen, kochen. Bei dem Gedanken daran wird Irmgard Ochsenknecht still. Es sind die Dinge, die Sophie nicht kann, nie können wird.

Auch Claudia Schirocki redet über Inklusion, aber sie redet ganz anders. Vor vier Jahren ging es darum, für ihren Sohn Raphael einen Platz an einer Regelschule zu finden. Die resolute Frau mit dem brünetten Haar muss grinsen, wenn sie an die schwierige Zeit zurückdenkt, an die Termine bei den Schulleitern, bei der Schulaufsicht, beim Bezirksbürgermeister. „Es gab da so einige Stolpersteine aus dem Weg zu räumen“, sagt die 46-Jährige in einem beschwingten Ton, den man nur trifft, nachdem ein Kampf gut ausgegangen ist. „Seien wir ehrlich, ein Kind abzuduschen, weil es sich in die Hosen gemacht hat, gehört für viele Lehrer nicht zum Berufsbild.“ Claudia Schirocki ist stolz, dass Raphael als erstes Down-Syndrom-Kind an der Franz-Marc-Grundschule in Tegel aufgenommen wurde.

Das gemeinsame Lernen will versteckte Talente fördern

Ein Schultag im September. In der Klasse 4a sticht der Zehnjährige schnell ins Auge. Raphael sieht kräftiger aus als die 14 anderen Kinder, seine Wangen leuchten rot, sein rotes T-Shirt zieren Flammen und ein Auto mit großen runden Augen. Außerdem sitzt er nicht allein an seinem Schultisch. Neben ihm hat sich Frieda Friedrichs einen Platz reserviert. Die Sonderpädagogin mit den langen Beinen und dem grauen Haar begleitet Raphael in vielen Schulstunden. Nur im Moment braucht er ihre Hilfe nicht. Raphael darf endlich den Touristen mimen. Freudestrahlend läuft er an den Schulbänken vorbei seiner Englischlehrerin entgegen. Zerrt auf halbem Weg noch mal an seiner lockeren Jeans, so dass die blaue Unterhose unter ihr verschwindet.

Schon kurz nach seiner Geburt diagnostizierten die Ärzte bei ihm das Down-Syndrom. Raphael fällt es schwer, deutlich zu sprechen. Beim Lernen kommt er nur langsam voran. Um voll und ganz für ihn da zu sein, gab Claudia Schirocki, Mutter von drei Kindern, ihren Job als Zahnarzthelferin auf. Schon lange bevor Raphael die Kita verlassen sollte, begann sie, eine Schule für ihn zu suchen. Ohne Erfolg. Alle Grundschulleiter in Reinickendorf lehnten ab. Das ist sechs Jahre her. Claudia Schirocki war entsetzt, ließ sich in den Behindertenbeirat wählen, gründete eine Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit Down-Syndrom, wendete sich an die Presse. „Die ständigen Anrufe haben etwas bewirkt“, sagt sie heute.

An der Tafel angekommen, greift Raphael die ausgestreckte Hand seiner Lehrerin. Sich in einer fremden Sprache im Ausland zurechtfinden, darum geht es. „Let's go to the Tower Bridge“, heißt es und Raphael saust im Eiltempo samt Lehrerin quer durch den Raum. „Tau-aaa Bitsch“, ruft er und stoppt vor dem Bild der berühmten Klappbrücke.

Das gemeinsame Lernen will versteckte Talente fördern und den Zusammenhalt in der Klasse stärken. Alle Kinder sollen davon profitieren, doch kann das funktionieren? Eine Klasse, in der Begabte neben Hochbegabten sitzen, Lernstarke neben Lernschwachen, Taube neben Stummen und dazwischen ein schwer mehrfach behindertes Kind wie Sophie?

Sophie kann nicht sprechen. Sie sieht auch wenig. In ihrem ersten Lebensjahr befällt ein Netzhauttumor ihr linkes Auge. Die Ärzte müssen es entfernen. Aber Sophie hat ein Leben. Das Mädchen mit dem schulterlangen glatten Haaren lacht, nimmt ihre Umwelt wahr. Sie drückt sich aus mit ihrem strahlend blauen Auge, sieht nach rechts, oder links, um Fragen zu beantworten. Sie zieht eine Schnute, wenn ihr etwas nicht gefällt, kämpft gegen die Schwerkraft an, um ihren Kopf zu heben, wenn sie etwas sehen will. Zeigt man Sophie einen Atlas und fragt nach Australien, dann guckt sie nach unten rechts. Sie kennt die Zahlen bis 100.

Im August 2006 beginnt für Sophie an einer Regelschule in Berlin-Steglitz der Unterricht. Schulaufsicht und Schulleiter versichern Irmgard Ochsenknecht, dass sich Sonderpädagogen und Schulhelfer ständig um ihre Tochter kümmern. Doch die Helfer sind überfordert. Sie sichern Sophie nicht im Rollstuhl und widmen sich während der Schulzeit immer öfter anderen Kindern. Ein Musiklehrer legt der Mutter nahe, Sophie aus dem Unterricht zu nehmen. Sie könne sich kaum daran beteiligen. Auch der Sportlehrer sieht das bald so. „Sie haben Sophie behandelt wie eine Sache, nicht wie einen Menschen“, sagt Ochsenknecht.

Die anderen Kinder grüßen Sophie nicht. Jeden Tag sollen sich in den Pausen zwei Kinder um sie kümmern. Das ist wie Tafeldienst und geht nicht lange gut. Sophie beginnt stundenlang zu schreien, sie wirkt verwirrt und verängstigt. Nach drei Monaten liegen die Nerven in der kleinen Familie blank. Sophie soll an eine neue Schule, doch die Suche erweist sich als schwierig. Oft fehlt es an einfachen Dingen wie Fahrstühlen oder an komplizierten, wie Lehrmethoden für ein Kind, das sich nicht bewegen kann.

Nach Monaten wechselt Sophie auf ein Förderzentrum für sehbehinderte Kinder. „Sie hat viel gelacht“, erzählt Irmgard Ochsenknecht. Einmal lag ein Radieschen in der Schultasche. Die Kinder hatten im Unterricht den Buchstaben R gelernt. Mit Erfolg. „Rrrrrrr hat Sophie gemacht, das war richtig süß.“ Doch auch hier fehlt es an einem Schulhelfer. Die Familie zieht vor Gericht. Über ein halbes Jahr springt die Mutter ein, hilft aus, bis sie den Prozess gewinnt. Doch die neue Helferin enttäuscht alle Hoffnungen. Sie sieht sich nicht in der Lage, Sophie zu versorgen, lehnt immer mehr Aufgaben ab. Auch sie kümmert sich öfter um andere Kinder in der Klasse. Zu tun gibt es genug, sagt Ochsenknecht.

Den Helfern wirft sie das nicht vor. Oft sind es Quereinsteiger, Abiturienten, die die Zeit bis zum Studium überbrücken. Nur wenige hätten eine Ausbildung, um sich eines Kindes wie Sophie anzunehmen, sagt Ochsenknecht. Ihre Tochter braucht viel Zuwendung, um ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Regelmäßig bettelt die Mutter bei der Schulaufsicht um andere, neue, ausgebildete Helfer. „Die Behörden machen einem das Leben schwer.“ Das Vertrauen zu den Lehrern, zu den Helfern, zur Schulaufsicht zerbricht. Sophie bekommt immer weniger vom Unterricht mit. Sie kann hier nicht mitmachen, dort nicht dabei sein, steht oft am Rand, ist im alten Sinne integriert, aber weiter außen vor. Als schwer mehrfach behindertes Kind fällt sie durch ein Raster. Die Integration funktioniert, doch die Inklusion stößt an ihre Grenzen. „Dann ist es besser, sie bleibt zu Hause“, sagte sich Ochsenknecht.

Man muss die Inklusion wollen, sagt Bettina Peglow. Das ist das Credo der Leiterin der Franz-Marc-Grundschule. Nur so lassen sich Hindernisse aus dem Weg räumen. Die Frau mit der kantigen Brille empfängt Gäste in einem großzügigen Büro. „Wir lernen am Kind und von dem Kind“, sagt Bettina Peglow. Sie erinnert sich gerne an die Anfangszeit mit Raphael zurück. Keiner der Lehrer hätte sich gesträubt, mit ihm zu arbeiten. Es gebe schließlich die UN-Konvention. „Da kann ich nicht sagen, ich mache nicht mit.“

Inklusion per Gesetz, entworfen in Konferenzräumen statt in Klassenzimmern? Inklusion ist eine Haltung, sagt Peglow. Sie sieht, dass alle Kinder von der besseren Ausstattung profitierten. Der Unterricht wird abwechslungsreicher, die Schüler lernen miteinander umzugehen. Es ist normal, anders zu sein, das singen sie schon zur Einschulung. Von den rund 400 Schülern gelten 41 als Inklusionskinder. Aber glatt läuft es nie. Zum neuen Schuljahr hat die Schulaufsicht der Grundschule die Zahl der Schulhelferstunden gekürzt. Ersatz für kranke Helfer gibt es nicht, sie wechseln oft. Jedes mal müssen sich die Kinder umstellen. Von anderen Schulleitern hört Peglow die gleichen Probleme, personelle wie auch bauliche. Einen neuen Waschraum hat die Grundschule erhalten. Der einzige mit Warmwasseranschluss. Ein Fahrstuhl und ein Ruheraum fehlen. Deshalb hat Peglow wieder Bewerbungen von Eltern behinderter Kinder ablehnen müssen.

Bloß nicht den Kampf aufgeben - wie andere vor ihr

Auch Irmgard Ochsenknecht sucht weiter nach einer neuen Schule. Im Wohnzimmer der 58-Jährigen stapeln sich Akten, ausgedruckte E-Mails, Schreiben der Schulaufsicht, Gerichtsdokumente und Elternzeitschriften. Das Papier liegt auf dem Esstisch, dem Schreibtisch, dem Bügelbrett, in den Regalen und auf den Stühlen. In der Ecke stehen leere Pfandflaschen, auf dem Boden liegt eine weiße Plastiktüte voller Äpfel. Die ersten faulen schon. Ochsenknecht ist alleinerziehend, auch ihr älterer Sohn fordert Aufmerksamkeit. Eine Pause hatte die Frau mit den vielen grauen Strähnen im dunklen Haar lange nicht mehr. Der andauernde Streit mit Behörden und Schulen hat sich für die gelernte Berufsschullehrerin zur Lebensaufgabe ausgewachsen, ein Kampf gegen die Zeit. Sophie wird älter, wächst aus dem Grundschulalter heraus. Danach wird alles komplizierter, weil die Inklusion an weiterführenden Schulen noch lange nicht angekommen ist.

Deshalb such Irmgard Ochsenknecht weiter einen Ausweg aus ihrem Papierwald. Bloß nicht den Kampf aufgeben, so wie andere Eltern es vor ihr getan haben. Bei dem Gedanken muss sich die zierliche Frau an einer Stuhllehne festhalten. Irmgard Ochsenknecht hat Tränen in den Augen. Sie kennt die Fälle von den Müttern und Vätern, die nicht mehr konnten. Die für ihre schwerbehinderten Kinder keine Zukunft mehr sahen. Sie brachten sie um. „Einige wurden sogar freigesprochen“, sagt Ochsenknecht und schluckt. Sie atmet tief ein. Einmal, zweimal, dann wischt sie die Tropfen weg und rückt ihre rot umrahmte Brille zurück auf die Nase.

Es sind die kleinen Erfolge, auf die es ankommt, sagt Claudia Schirocki. Vor ein paar Wochen brachte Raphael freudestrahlend seine erste Eins in Mathe nach Hause. Ihr Sohn kann nur bis 20 zählen, alle um ihn herum rechnen mit Zahlen bis zu einer Million. Seine Aufgaben waren viel leichter als die der anderen, aber er hat seinen Test bestanden. Raphael geht inzwischen alleine in die Schulmensa, der Weg zum Hort wird gerade mit ihm trainiert. Man müsse in kleinen Schritten denken, sagt Claudia Schirocki.

In kleinen Schritten denkt auch Irmgard Ochsenknecht. Sophies Hausarzt attestierte zuletzt, dass ihre Mutter sie wieder zu ihrer alten Schule begleiten solle. Das jedoch will der Schulleiter nicht. So wie Eltern eine Pflicht haben, ihre Kinder in die Schule zu schicken, haben auch Schulen die Pflicht, alle Kinder zu unterrichten, sagt Ochsenknecht.

Höchstens noch zwei Monate kann es sich die Hartz-IV-Empfängerin leisten, von ihren Ersparnissen eine private Hilfskraft für Sophie zu bezahlen. Jemanden, der Arbeit abnimmt. Für ein paar Stunden in der Woche mit dem Mädchen spazieren geht, Schulaufgaben übt. Dafür spart Irmgard Ochsenknecht, wo sie kann. „Ich fühle mich ziemlich allein“, sagt sie. „Meine Tochter ist in dieser Gesellschaft nicht willkommen.“

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