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Hier ist mein Platz. Einen schönen Klassenraum ohne weite Weg von zu Hause aus - das wünschen sich Eltern und Kinder.

© Bernd Wüstneck/dpa

Inklusion in Berlin: Was tun, wenn Schüler ausrasten?

Emotional-sozial auffällige Kinder schreien plötzlich wie wild, bewerfen oder beleidigen Lehrer: Inklusion erweist sich im Unterricht oft als Herausforderung.

Na klar spazierte Hussein* im Unterricht durchs Klassenzimmer wie ein Sommerfrischler durch den Wald. Aber doch nicht die ganze Zeit. Natürlich gab’s auch Stunden, in denen er am gleichen Platz seinen Lehrern zuhörte.

Er saß dann unterm Tisch.

Soll er doch, Astrid-Sabine Busse hatte damit kein Problem. Sie zog ihren Unterricht durch, Geschichte und Erdkunde in der vierten Klasse in der Schule an der Köllnischen Heide. „Man muss das einfach aushalten können“, sagt sie heute, zwei Jahre später. Das Problem war ja nicht, dass Hussein, der Zehnjährige, der Hochbegabte, geistig unterfordert gewesen wäre. Das Problem lautet: Hussein war und ist emotional-sozial auffällig.

„Jeder Kollege“, sagt Busse, „wird bestätigen, dass sie die schwierigsten Kinder darstellen. Sie sind die größte Herausforderung bei der Inklusion.“

Sie leitet die Schule an der Köllnischen Heide, sie sitzt oft in Fortbildungen zur Inklusion. Sie hört diese klugen Vorträge der Experten, sie hört dann aber auch regelmäßig die Fragen der Zuhörer: „Das ist ja alles interessant. Aber was machen wir mit den emotional-sozial auffälligen Kindern, wenn sie so richtig aufdrehen?“

Wenn sie so richtig aufdrehen, diese Kinder, oft erst sechs, sieben Jahre alt, schreien sie plötzlich wild, werfen mit allem, was sie finden können, oder rennen durchs Zimmer. Oder sie beleidigen Lehrer aufs Übelste. „Wenn die aufdrehen, können sie eine Unterrichtsstunde sprengen“, sagt Astrid-Sabine Busse. „Dann leiden 20 oder 24 Schüler unter einem einzigen Kind.“

Es gibt aber auch die stillen Kinder, die nicht stören, Mädchen oft, bei denen man ihre emotional-soziale Auffälligkeit erst dann bemerkt, wenn sie ihrem Erzieher anvertrauen, dass sie sich gerne umbringen würden. „Die Zahl betroffener Kinder ist extrem gestiegen“, sagt Busse.

"Wichtig ist eine feste Bezugsperson"

Sie ist, verglichen zum vergangenen Schuljahr, genau um 591 Schüler und Schülerinnen gestiegen, allerdings auch, weil jetzt anders gezählt wird. Im Schuljahr 2017/18 haben 4932 Kinder einen Förderbedarf wegen emotional-sozialer Auffälligkeit. Das teilte die Senatsbildungsverwaltung mit. Auch an Busses Schule gibt es selbstverständlich solche Kinder. Erst vor Kurzem musste ein randalierendes Kind aus einem Musikunterricht genommen werden.

Das ist ja die erste Maßnahme, ein Kind aus der Situation lösen. Ein Erzieher führt es in einen Therapieraum, geht mit ihm spazieren, oder beide gießen Blumen. „Wichtig“, sagt Busse, „ist eine feste Bezugsperson. Da kann ich nicht ständig mit einem anderen kommen.“

Für Kinder mit emotional-sozialem Förderbedarf erhalten Schulen aufgrund von Zumessungsrichtlinien mehr Personal. „In den Grundschulen“, teilt die Bildungsverwaltung mit, „wird seit 2017/18 schrittweise in einem mehrjährigen Prozess eine verlässliche Grundausstattung für die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung eingeführt.“

Mit entscheidend ist die Zahl der Kinder, die von der Lernmittelzuzahlung befreit sind. In der Sekundarstufe erhielten Schulen derzeit für jedes Kind mit Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung zusätzlich drei Lehrer-Wochenstunden. Zudem würden in einigen Regionen besonders betroffene Kinder in sonderpädagogischen Kleinklassen betreut, in Koordination mit Maßnahmen der Jugendhilfe.

Selbst 100 Prozent Personalausstattung reicht nicht

An ihrem Konferenztisch nickt Astrid-Sabine Busse bei solchen Zahlen. Vernünftige Schritte, sagt sie. Nur: Sie reichten nicht aus. Gut, einerseits ist sie froh, „dass wir hier eine 100-prozentige Lehrer-Ausstattung haben“. Doch dann faltet sie die Hände, blickt frustriert und sagt: „100 Prozent reichen leider nicht aus, weil immer jemand krank ist.“ Selbst an ihrer Schule fehlten für die optimale Betreuung emotional-sozial auffälliger Kinder rund zwei Lehrerstellen. Dreht ein Kind auf, muss ja jemand mit ihm rausgehen. Ein Erzieher in der Regel, aber bei einer Grippewelle wird es personell eng.

Astrid-Sabine Busse ist auch Vorsitzende des Interessenverbands Berliner Schulleitungen. Und in ihrer Verbandsfunktion spricht sie auch für ihre Kollegen. Es gibt ja genügend Schulen, die vergleichsweise wenig emotional-sozial auffällige Kinder haben, mit entsprechend weniger Lehrpersonal. „Gute Wohngegend, kleine Schule, normale Ausstattung“, so beschreibt Astrid-Sabine Busse die Rahmenbedingungen. „Und wenn dann plötzlich ein Kind randaliert und es ist nur der Klassenlehrer, aber kein Erzieher oder eine zusätzliche Lehrkraft da, wird es schwierig.“ Dann gebe es nur die Möglichkeit, „dass ich als Lehrer einen Kollegen der benachbarten Klasse bitte, kurz die Aufsicht auch über meine Klasse zu übernehmen“. Dann könne der Pädagoge mit dem Kind erst mal in eine ruhigere Umgebung gehen.

Optimale Inklusion funktioniert bei dieser Personallage nicht

Und deshalb stößt die Verbandschefin einen tiefen Seufzer aus. „Inklusion ist eine tolle Idee. Nur: Wenn sie so gelebt werden soll, wie sie angedacht ist, geht das derzeit nicht. Jedenfalls nicht mit der aktuellen allgemeinen Personallage.“

Und allein schon zusätzliches Personal zu bekommen, „bedeutet einen extremen bürokratischen Aufwand“. Bis zu neun Monate kann es dauern, dass ein Förderbedarf bei einem Kind festgestellt wird. Viele dieser Kinder wären ihrer Ansicht nach ohnehin in einem Förderzentrum besser aufgehoben. Mit Sonderpädagogen, mit kleinen Klassen. Doch wenn die Eltern nicht mitspielen, bleibt das Kind an der Regelschule. Und zwar dauerhaft.

Besonders auffällige, besonders respektlose, besonders randalierende Kinder können mit zehn Tagen Schulverweis sanktioniert werden. „Dann ist es wieder da, und alles geht von vorne los“, sagt Busse. Im Extremfall muss das Kind die Schule verlassen. Strafe? Meist nur für die Schule, die dieses Kind aufnehmen muss. „Pädagogisch sinnvolle Maßnahmen sind das natürlich nicht“, sagt Busse.

Die Kinder brauchen zu Hause mehr Zuwendung

Die wichtigsten pädagogischen Maßnahmen müssten im Elternhaus stattfinden. Kinder seien oft deshalb auffällig, weil sie dort zu wenig Zuwendung spüren. „Wenn ein Kind morgens zwei Energydrinks erhält oder zwei Stunden in den Fernseher gestarrt hat, muss ich mich nicht wundern“, sagt Busse.

Dann wird ihr Blick weicher, sie denkt an Hussein, den Hochbegabten. Der ist immer noch an ihrer Schule, nach Monaten intensiver Betreuung. Er sitzt nicht mehr unterm Tisch, er fällt viel stärker mit Leistungen als mit seltsamen Auftritten auf. „In einigen Fächern“, sagt Astrid-Sabine Busse stolz, „hat er sehr gute Noten.“

*Name geändert

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