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Kinder von Einwanderern bekommen in Kanada zusätzlich Sprachunterricht – so lange, bis sie gut genug Englisch sprechen, um dem regulären Unterricht zu folgen.

© Lars von Törne

Integration: Lernen von Kanada

In Kanadas Schulen gilt: so viel individuelle Förderung wie nötig, so viel gemeinsamer Alltag wie möglich. Ein Modell mit Lehren auch für Deutschland, findet Angela Merkels Integrationsbeauftragte Maria Böhmer.

Als Lloyd McKell und seine Kollegen von der Schulbehörde Toronto ihre Idee vor ein paar Jahren vorstellten, gab es Proteste. Kritiker sprachen von Segregation, manche sahen das Ende des kanadischen Multikulturalismus gekommen. Andere waren begeistert und sahen neue Hoffnung für benachteiligte Schüler. Auslöser der Kontroverse war das Projekt „afrozentrische Schule“: eine Schule vorwiegend für Schwarze, in der das afrikanische Kulturerbe und Beispiele von schwarzen Wissenschaftlern, Literaten und historischen Persönlichkeiten einen größeren Stellenwert haben als in regulären Schulen. Inzwischen läuft das Projekt seit zwei Jahren, 160 Schüler besuchen es, die Warteliste ist lang, und Schulrat Lloyd McKell spricht von einem Erfolgsmodell: „Die Testergebnisse zeigen, dass die Leistungen der Schüler über dem Durchschnitt liegen“, sagt er. Und das bei einer Schülergruppe, von der viele in Leistungsvergleichen sonst oft dürftig abschneiden.

Die afrozentrische Schule ist ein besonderes Beispiel für eine in Kanada weit verbreitete Einstellung, die der Besucher in Schulen zwischen Toronto, Edmonton und Vancouver wie ein Mantra vorgetragen bekommt: Wenn Schüler sich anerkannt und in ihren Besonderheiten gefördert fühlen, bringen sie bessere Leistungen. Deshalb hat die „afrozentrische Schule“ für Lloyd McKell nichts mit Segregation zu tun, dafür aber umso mehr mit Wertschätzung und Förderung einer Bevölkerungsgruppe, die in der jahrzehntelang von Weißen dominierten Gesellschaft diskriminiert wurde – und zum Teil bis heute wird. Unterrichtet wird nach dem regulären Lehrplan, aber die Beispiele, mit denen Themen illustriert werden, stammen eben nicht primär aus dem europäischen Kulturkreis, sondern heben die Erfahrungen von Afrikanern und ihren Nachfahren rund um die Welt hervor. Die Botschaft an die Schüler sei, sagt McKell: „Du bist groß, du bist stark!“ Diese Wertschätzung, verbunden mit der in kanadischen Schulen starken individuellen Förderung, führt dann zu Leistungen, auf die alle Beteiligten stolz sind.

Diese Mischung hat vor kurzem auch Maria Böhmer beeindruckt. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung war eine Woche in Schulen in Toronto und Vancouver unterwegs, um Anregungen für Deutschland zu sammeln. Besonders die ausgeprägte individuelle Förderung habe sie beeindruckt, sagte Böhmer dem Tagesspiegel. „Bei uns hingegen sind viele Lehrer auf die Vielfalt der Schüler noch nicht ausreichend eingerichtet.“ Die CDU-Politikerin und Professorin für Erziehungswissenschaften spricht auch aus eigener Erfahrung: Als sie Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre ihr eigenes Lehramtsstudium absolvierte, „war das kein Thema“. Bis heute tun sich viele Lehrer schwer, wenn sie vor einer Klasse stehen, in der deutsche Kinder die Minderheit sind. „Wir brauchen mehr interkulturelle Kompetenz“, sagte Böhmer. Von radikalen Experimenten wie der afrozentrischen Schule hält sie jedoch nichts. „Unser Ansatz ist, dass jede Schule ein Ort der Integration sein muss“, sagte sie. „Eine künstliche Trennung würde der Integration zuwider laufen.“

Lloyd McKell kam 1967 selbst als Einwanderer nach Toronto und kämpft seitdem für Chancengleichheit.
Lloyd McKell kam 1967 selbst als Einwanderer nach Toronto und kämpft seitdem für Chancengleichheit.

© Lars von Törne

Dem stimmt prinzipiell auch Lloyd McKell zu, der am 30. August in Berlin mit Maria Böhmer über Integration durch Bildung diskutieren wird. Er betont, dass die Schule mit Afrika-Schwerpunkt ein einmaliger Versuch bleiben soll, von dem höchstens einzelne Elemente in anderen Schulen angewandt werden. Das kanadische Prinzip hingegen, wie es Besucher an vielen Schulen erleben, lässt sich grob mit dem Slogan umschreiben „Vielfalt in Einheit“: so viel individuelle Förderung wie nötig, so viel gemeinsamer Alltag wie möglich.

Das heißt etwa für Kinder aus Einwandererfamilien mit geringen Englischkenntnissen, dass sie bis zu vier Jahre lang in zwei Klassen parallel unterrichtet werden: einen halben Tag in sogenannten ESL-Klassen (English as a Second Language), in denen sie außer der Sprache auch andere Fächer so vermittelt bekommen, dass sie auch ohne perfekte Englischkenntnisse mitkommen; die andere Hälfte des Tages verbringen die Kinder in regulären Klassen. Dafür bekommen Schulen mit vielen bedürftigen Schülern mehr Geld von der Schulbehörde. Zusätzlich können Einwandererkinder Kurse besuchen, in denen sie in ihrer Muttersprache unterrichtet werden – sobald es an einer Schule 25 Schüler gibt, die daran Interesse haben, bezahlt die Schulbehörde ihnen zusätzlich fünf Stunden muttersprachlichen Unterricht pro Woche.

Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Lesen Sie mehr auf der zweiten Seite.

Staatsministerin Maria Böhmer ist beeindruckt von den kanadischen Erfolgen bei der Integration – und sieht Lehren für Deutschland.
Staatsministerin Maria Böhmer ist beeindruckt von den kanadischen Erfolgen bei der Integration – und sieht Lehren für Deutschland.

© Thilo Rückeis

Kanada-Besucherin Böhmer zeigte sich beeindruckt davon, wie ernst die Kanadier die Erkenntnis nehmen, dass Bildung der Schlüssel zur Integration ist: „Es gibt bei Familien, die neu ins Land kommen, sofort eine professionelle Einschätzung der Kinder bezüglich ihres Bildungsstandes, und zwar nicht nur durch formale Zeugnisse und die Bewertung des Sprachstandes, sondern auch durch Mathematiktests, so dass sich auch sprachunabhängig Erfolgserlebnisse vermitteln lassen.“ Zudem lobt Böhmer, wie von Anfang an die Eltern eingebunden werden: So gehört zum Begrüßungsprogramm eine Beratung – bei Bedarf mit Übersetzer – darüber, wie sie ihrem Kind helfen können und welche Erwartungen die Schule an die Eltern hat. Und sie bekommen, ähnlich wie ihre Kinder, vom ersten Tag an Englischkurse angeboten. Eine solche Einbindung der Eltern gibt es in Deutschland vereinzelt schon, wie Böhmer jüngst bei Schulbesuchen quer durch die Republik erlebt hat – aber so flächendeckend wie in Kanada sei das Angebot bei uns eben noch nicht. Allerdings wählt Kanada seine Einwanderer auch stärker als Deutschland nach Kriterien wie Bildung, Alter und Qualifikation aus.

Lehrer zu motivieren, sich individuell auf die Schüler einzulassen – das ist eine der Aufgaben von Lloyd McKell, der Rektoren und Schulräte berät, wie sie an ihren Schulen noch mehr Chancengleichheit erreichen können. Ein zentrales Stichwort ist dabei „Community“: die enge Zusammenarbeit mit Vertretern der Eltern, Nachbarn, Kulturgruppen und oft nach Herkunftsland definierten Interessenvertretungen, die rund um die Schule leben. Sie versucht die Schulbehörde über geschulte Ansprechpartner für gemeinsame Projekte zu gewinnen. „Das ist immer ein magischer Moment“, sagt McKell. „Wenn Vertreter von Minderheiten sehen, dass wir uns für sie interessieren, stärkt das ihr Selbstbewusstsein, und sie bringen sich positiv ein.“

Der Schulrat hat das als Einwanderer selbst erlebt: 1967 kam er aus dem Karibikstaat Trinidad und Tobago nach Toronto an die Universität, seitdem engagiert er sich für die Gleichberechtigung im Bildungssystem seiner Wahlheimat. Er hat sich dafür stark gemacht, dass etwa die Vorschriften für Elternsprechstunden geändert wurden – und heute bei Bedarf ein Übersetzer dabei ist. Und er wirbt unter den Migrantengruppen Torontos um pädagogischen Nachwuchs: „Es gibt kein stärkeres Argument für Schüler, sich anzustrengen, als einen Lehrer mit demselben kulturellen Hintergrund.“ Um mehr Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter und andere Schulmitarbeiter aus Einwandererfamilien anzulocken, wurden die Ausschreibungsregeln erweitert, sagt McKell: Außer fachlichen Voraussetzungen ist es heute in Toronto von Vorteil, unterschiedliche Sprach- und Kulturkenntnisse zu haben.

Das ist auch eine der Empfehlungen, die Lloyd McKell für Berlin und Deutschland hat: „Wieso führen Sie nicht die Kenntnis der türkischen oder arabischen Community als ein zusätzliches Kriterium für die Einstellung neuer Lehrer ein?“, fragt er. „Das würde schon einen großen Unterschied machen.“

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