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Sybille Volkholz, 68, leitet den Beirat "Inklusive Schule".

© Mike Wolff

Interview zu Inklusion: „Eltern sollen nicht mehr Bittsteller sein“

Wie können Berlins Schulen behindertengerecht werden? Sybille Volkholz, Vorsitzende des Beirats "Inklusive Schule" über den weiten Weg dorthin.

Beim Thema „Inklusion“ ist momentan mehr von Ängsten als von Chancen die Rede. Ist das auch im Beirat zu spüren, dem Sie vorsitzen?

Wenn es um Erziehung von Kindern geht, ist die Diskussion sehr schnell von Ängsten geprägt. Das ist auch im Beirat zu spüren. Trotzdem stehen dort die Chancen, die in einem guten Inklusionsprozess liegen können, im Vordergrund. Ich würde mehr von der gemeinsamen Sorge um ein gutes Aufwachsen von Kindern sprechen.

Eltern von Kindern mit Behinderungen rufen bei uns an, weil sie nicht wollen, dass ihre Förderschule abgeschafft wird. Sollen sie zur Inklusion gezwungen werden?

Mit der gemeinsamen Erziehung gibt es in Berlin schon über 20 Jahre lange Erfahrung und zwar überwiegend positive. Auch in diesem Prozess ist es zur Schließung von Schulen gekommen. Die UNKonvention gibt diesem Prozess der gemeinsamen Erziehung einen neuen Anstoß, und das ist gut. Eltern werden nicht zur Inklusion gezwungen, aber alle Schulen sollen in die Lage versetzt werden, behinderte Kinder unterrichten zu können. Aber auch dies wird noch einen längeren Zeitraum brauchen.

Zuerst soll die große Mehrheit von Förderschulen abgeschafft werden, die von Kindern mit Verhaltens-, Lern- und Sprachproblemen besucht werden. Die Regelschulen befürchten, dass man sie mit pauschalen und unzureichenden Personalzuweisungen abspeisen will.

Rund 50 Prozent dieser Kinder werden heute schon in der Grundschule unterrichtet. Dieser Anteil wird größer. Es steht nicht die Abschaffung von Schulen im Vordergrund, sondern die Förderfähigkeit der Regelschule. Die Überlegung ist, den Schulen eine verlässliche Grundausstattung für die sonderpädagogische Förderung zu geben, die sie flexibel für die Kinder verwenden kann, die dies brauchen. Diese Grundausstattung muss nicht geringer sein als die bisherige. Dieser Prozess muss begleitet werden mit sorgfältiger Rechenschaftslegung und Evaluation. Diese Frage ist im Beirat aber noch umstritten und nicht entschieden.

Nach den Erfahrungen mit JüL und der Früheinschulung misstrauen viele Eltern großen Reformen.

Diese Ängste müssen ernst genommen werden. Deshalb gibt es ja auch Modellbezirke für die Inklusion. Und deshalb wird der Übergang ja auch verlangsamt. Der Prozess wird sich über Jahre hinziehen, der Beirat hat als Zielzeitraum 2020 ins Auge gefasst.

Und dann wird es keine Förderschulen mehr geben?

Vielleicht wird es noch eine Anzahl von Förderschulen geben, sofern die Nachfrage seitens der Eltern da ist.

Sollen auch die Schulen aufgelöst werden, die sich um die besonders aufwendigen Förderschwerpunkte kümmern wie geistige Behinderung?

Auch heute sind schon Kinder mit diesen Behinderungen in Regelschulen integriert. Der Beirat hat die Planung des Senats von Schwerpunktschulen akzeptiert, unter der Bedingung, dass es an diesen Schulen mehr nichtbehinderte als behinderte Kinder gibt. Damit soll verhindert werden, dass es sich um verkappte Förderzentren handelt. Es soll in jedem Bezirk und in jeder Schulform Schwerpunktschulen geben. Ob es 2020 noch einzelne Förderschulen geben wird, ist nicht die Frage. Ziel der Inklusion ist nicht die Abschaffung von Schulen, sondern die Verbesserung der Förderung.

Die Eltern haben aber Angst, dass sie nicht gefragt werden. Schon jetzt dürfen manche Förderschulen keine neuen Klassen mehr aufmachen.

Es gibt auch Eltern, die sich beschweren, dass ihr behindertes Kind nicht schon jetzt in die Schule auf der anderen Straßenseite gehen kann. Die Schulentwicklung muss immer versuchen, einen möglichst großen Konsens hinzubekommen. Es wird in den Regionen Beratungs- und Unterstützungsstellen für Lehrkräfte und auch Eltern geben, mit deren Hilfe die Kinder die Förderung erhalten, die sie brauchen.

Beispiel Helen-Keller-Schule: Hier werden Kinder mit Sprachproblemen gefördert. Sprachpädagogen, Sprachtherapeuten und Psychologen helfen ihnen, so dass viele von ihnen den Sprung in Regelschulen schaffen. Die Eltern sagen: Ohne die Keller-Schule hätten sie das nie geschafft.

In inklusiven Schulen müssen Lehrkräfte und Fachkräfte mit der entsprechenden sonderpädagogischen Kompetenz vorhanden sein. Und im Bereich der sprachlichen Behinderungen wird es auch temporär Klassen für die besondere Förderung brauchen. Aus solchen Klassen heraus ist die Eingliederung in die Regelklassen dann leichter möglich.

Berlins Schulen fehlen hunderte Millionen Euro für Sanierung und Brandschutz. Im Beirat hat eine Bezirksvertreterin darauf hingewiesen, dass kein Geld für den behindertengerechten Umbau vorhanden ist. Dieser Hinweis ist angeblich im Protokoll der Sitzung nicht zu finden. Stimmt das?

Die Frage ist nicht, ob es im Protokoll steht, sondern wie Berlin mit dem Sachverhalt umgeht. Im Prozess der Inklusion bietet es sich an, von den Schulen auszugehen, die bereits über die baulichen Voraussetzungen zur Barrierefreiheit verfügen. Auch Förderzentren können zu inklusiven Schulen werden. An einigen Schulen werden sicher leichter die Voraussetzungen geschaffen werden können als an anderen. Eine Gesellschaft, die bessere Bedingungen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen schaffen will, muss dafür auch Mittel zur Verfügung stellen.

Kürzlich hat Neuköllns Bildungsstadträtin Franziska Giffey in Brandenburg eine Schule für Kinder mit schweren Verhaltensproblemen besucht. Manche haben sexuellen Missbrauch hinter sich, hinter allen liegt eine lange Odyssee durch Regelschulen. Viele stammen aus Berlin, weil hier schon fast alle Schulen für diese Kinder abgeschafft wurden.

Es wäre schon besser, wenn diese Kinder keine Odyssee durch die Regelschule machen müssten, sondern dort auch mehr sonderpädagogische und therapeutische Kompetenz vorhanden wäre. Es gibt auch die Möglichkeiten, schwierige Kinder temporär in besonderen Lerngruppen zu unterrichten. Sie sollen nur nicht auf Dauer bestehen.

Aus der Elternschaft gibt es den Vorwurf, dass die Betroffenen im Beirat nicht genügend repräsentiert sind.

Im Beirat sind vor allem Personen vertreten, die mit der Umsetzung des Inklusionsprozesses befasst sind.Es wird ein Forum Inklusion geben, das erheblich größer ist und sehr viele der Betroffenen einbezieht. Zudem wird es bei der Senatsverwaltung Arbeitsgruppen für die einzelnen Behinderungsarten geben, in die die Eltern einbezogen sind.

Viele Lehrer argwöhnen, dass bei der UN-Charta zur Inklusion etwas komplett missverstanden wurde. In den Förderzentren werde auf sehr hohem Niveau gearbeitet, die Charta richte sich eigentlich an Länder, die Behinderte zu wenig fördern.

Ziel der UN-Konvention ist die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Dazu gehört auch der selbstverständliche Umgang miteinander. Das muss gelernt werden. Zudem sollen Eltern behinderter Kinder nicht mehr das Gefühl haben, dass sie als Bittsteller auftreten, wenn sie einen Platz an einer Regelschule suchen. Inklusion bedeutet die positive Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und individueller Förderung als Selbstverständlichkeit.

Das Gespräch führte Susanne Vieth-Entus

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