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Bildungsforscher Simon Morris-Lange, 30, arbeitet beim Forschungsbereich des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration.

© Kai-Uwe Heinrich

Interview zur Grundschulwahl: „Starke Schüler können von schwachen Schülern profitieren“

Wie lernen Kinder am besten? Und was passiert, wenn Kinder in segregierten Klassen sind? Bildungsforscher Simon Morris-Lange über die richtige Mischung an Grundschulen, vergebliche Zwangsmaßnahmen und Defizite der Lehrer.

Herr Morris-Lange, wenn Sie Kinder hätten, würden Sie sie auf einer Berliner Brennpunktschule einschulen?

Ein hoher Zuwandereranteil würde mich jedenfalls nicht abschrecken. Ein Migrationshintergrund ist ja nicht mit niedriger Bildung gleichzusetzen. Meine Kinder sollen verstehen, dass nicht alle Klassenkameraden so wie sie selbst sind. An eine scheiternde Schule würde ich sie allerdings nicht schicken.

Was verstehen Sie unter einer scheiternden Schule?

Eine Schule, an der viele Unterrichtsstunden ausfallen und Ordnungsprobleme den Unterricht stark beeinträchtigen. An der das Kollegium zu wenig zusammenarbeitet oder resigniert hat und an der es eine schwache Schulleitung gibt.

Viele bildungsbewusste Eltern in Berlin halten aber Schulen mit einem hohen Zuwandereranteil für solche Problemschulen und meiden sie.

Ja, sie assoziieren ihn mit sozialen Problemen und einem schlechten Lernniveau.

Und sind diese Ängste berechtigt?

Nicht unbedingt. Viele dieser Schulen arbeiten sehr erfolgreich. Und Kinder aus bildungsnahen Familien können auch an Schulen, die keine optimalen Bedingungen haben, Lernerfolge erzielen. Kinder mit Migrationshintergrund dagegen erleiden sehr viel häufiger Einbußen, wenn sie in segregierten Klassen sind.

Das müssen Sie genauer erklären.

Am schlechtesten lernen Kinder, wenn sie in Klassen sitzen, in denen das Lernniveau und die soziale Herkunft aller Schüler niedrig ist. Kinder mit Migrationshintergrund sind viel häufiger und frühzeitiger in solchen Klassen als Kinder ohne Migrationshintergrund. Das hat nicht nur zur Folge, dass sie weniger lernen, sondern wirkt auch negativ auf ihr Selbstbild. Diese schlechten Startbedingungen haben oft Auswirkungen auf den ganzen weiteren Bildungsweg.

Und wie lernen Kinder am besten?

Die besten Ergebnisse wurden in Klassen festgestellt, in denen es große Leistungsunterschiede gibt. Besonders die schwachen Schüler profitieren davon, aber auch die starken haben keinen Nachteil oder sogar leichte Lernvorteile.

Wie erklären Sie das?

Wenn in einer Klasse schwache und starke Schüler sind, sind Lehrer eher gezwungen, individuell auf die Kinder einzugehen. Zudem orientieren sich die schwachen Schüler an den Stärkeren, und diese lernen wiederum, wenn sie ermutigt werden, den Schwächeren zu helfen. Wenn dagegen alle schlecht sind, wird der Lehrer das Niveau senken und auch nicht so viel von seinen Schülern erwarten.

Manche Eltern berichten trotzdem, dass ihre Kinder, die auf einer sozial schwierigen Grundschule waren, auf dem Gymnasium dann viel aufzuholen hatten.

Dann hat das individualisierte Lernen an der Grundschule vermutlich nicht funktioniert und der Lehrer hat das Unterrichtsniveau tendenziell an den Durchschnitt angepasst.

Reicht es denn, wenn ein einziges starkes Kind in einer Klasse mit mehrheitlich schwachen Schülern sitzt?

Ab welcher Anzahl ein positiver Effekt zustande kommt, hängt von vielen Faktoren ab, etwa, wie gut die Lehrkraft die individuelle Förderung der Schüler umsetzt. Wenn eine Klasse altersgemischt ist, sind die Leistungsunterschiede oft ohnehin da. Zudem können sich Eltern vor der Einschulung für eine ausgewogenere Mischung der Klasse engagieren.

Sie sagen, dass sich viele Lehrer noch immer an einem deutschen Normschüler orientieren.

Viele angehende Lehrkräfte haben falsche Vorstellungen. Nicht wenige hoffen darauf, an einem Gymnasium mit einer leistungswilligen, homogenen Schülerschaft zu unterrichten. Aber das homogene Klassenzimmer ist eine Illusion! Da muss Deutschland in der Lehrerausbildung aufholen. Nur an jeder fünften Hochschule ist der Umgang mit Heterogenität bisher ein Pflichtkurs.

Muten wir den Lehrern nicht zu viel zu?

Es ist in der Tat eine große Herausforderung für Lehrer, auf Kinder mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und kulturellen Hintergründen gleichzeitig einzugehen. Ein guter Lehrer zu sein, ist einer der anspruchsvollsten Jobs, den ich mir vorstellen kann.

Worauf sollten Eltern achten, wenn sie eine Brennpunktschule in Betracht ziehen?

Ich würde mir – sofern schon veröffentlicht – den Schulinspektionsbericht anschauen. Da kann man Punkte wie das individualisierte Lernen gut ablesen. Dann würde ich die Schule besuchen und mir selbst ein Bild machen: Arbeiten Lehrkräfte zusammen, ist die Schulleitung auf Zack, wird auf mich als Elternteil aktiv zugegangen? Gibt es mehrsprachige Angebote, und wie werden Eltern mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen angesprochen? Wenn hier eine gewisse Dynamik herrscht, können Kinder etwas lernen, das über Rechnen und Schreiben hinausgeht.

Sie sprechen von interkultureller Kompetenz.

Ja, sie lernen, sich in gemischten Gruppen zurechtzufinden. Den Umgang mit Vielfalt. Das sind Dinge, die in Alltag und Berufsleben immer wichtiger werden.

Doch selbst wenn Schulen in schwierigen Lagen gute Arbeit machen, bleiben die bildungsnahen Eltern oft fern. Was halten Sie von staatlichen Maßnahmen, um eine bessere Mischung der Schüler zu erreichen?

Zwangsmaßnahmen funktionieren in der Regel nicht. In den USA scheiterte ein Bustransfersystem - das sogenannte Busing – bei dem afroamerikanische Schüler in mehrheitlich von Weißen besuchte Schulen gebracht wurden, daran, dass die weiße Bevölkerung wegzog. Auch in Neukölln wurde das in den Achtzigern ausprobiert, ebenfalls erfolglos.

Was ist mit den Einzugsgebieten? Könnte man die nicht so ändern, dass eine bessere Mischung entstünde?

Ich bin da skeptisch. Wenn die Akzeptanz der Familien nicht da ist, helfen solche Maßnahmen wenig. Viele ziehen dann eher um, klagen sich ein oder melden sich zum Schein unter einer falschen Adresse an.

Was empfehlen Sie Schulen mit einem hohen Zuwandereranteil dann?

Das Lehrerkollegium sollte die Vielfalt der Schülerschaft nicht nur punktuell berücksichtigen, sondern als strategischen Ausgangspunkt nehmen. Wichtig sind intensive Sprachförderung in allen Schulfächern und die aktive Einbindung der Eltern. Oft muss man sich anstrengen, um die Eltern zu erreichen. Manche Schulen sind da sehr einfallsreich. Eine Hamburger Schule verschickte zum Beispiel Einladungen zu Elternabenden als Audio-CD in der Sprache der Eltern. Aufbauend darauf wurde mittelfristig eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern erreicht.

Auch die Lehrer müssen sich umstellen.

Die Einstellung des Kollegiums ist vielleicht das wichtigste. Wenn die sagen, wir sind die Pechvögel, dass wir an dieser Schule arbeiten müssen, dann wird das nichts. Aber wenn sie sich auf die Schüler einstellen und die Arbeit als Herausforderung betrachten, dann sieht es schon besser aus. Und eine starke Schulleitung kann diese Richtung vorgeben.

Müssten diese Schulen mehr Geld bekommen?

Ja, die Behörden müssen diese Schulen viel mehr stärken. Denkbar wären auch Anreize für Lehrer, dort zu arbeiten, und eventuell nach ein paar Jahren wieder zu wechseln. Die schwächsten Schüler brauchen die stärksten Institutionen!

Das Gespräch führte Sylvia Vogt.

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