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Schule: Klassenziel Integration

Kanada gilt als Vorbild in Sachen multikultureller Bildung. Auch in Toronto geht das nicht immer reibungslos

Die Sitzung der Schulbehörde von Toronto endete mit Geschrei und Rassismusvorwürfen. Gestritten wurde über eine neue Schule, eine staatlich finanzierte „afrozentrische Schule“, in die überwiegend schwarze Kinder gehen sollen, auf deren Probleme und Bedürfnisse der Lehrplan abgestimmt wird. In einer Stadt, die viel auf ihre Multikulturalität und Weltoffenheit hält, ist das für viele eine Provokation. Für andere ist die für 2009 geplante Schule ein Beleg dafür, wie flexibel und sensibel das kanadische Schulsystem auf Minderheiten eingeht.

Die afrozentrische Schule ist das jüngste Beispiel für den stark an den Schülern orientierten kanadischen Umgang mit Integration im Schulwesen, der vielen deutschen Beobachtern als Vorbild gilt. So erklärt eine kürzlich erschienene Untersuchung die Tatsache, dass kanadische Einwandererkinder beim Pisa-Test besser abgeschnitten haben als die deutschen, nicht nur mit sozio-ökonomischen Unterschieden und einer selektiveren Einwanderungspolitik, sondern auch mit verschiedenen Schulkulturen.

Während sich die deutschen Schulen „am Modell der Ausbildung für den einheitlichen Nationalstaat“ orientieren, gehören in Kanada seit 40 Jahren „multikulturelle Bildung und Erziehung zu den Leitbildern der Bildungspolitik“, heißt es in einer Studie, die von dem Bildungsexperten Hermann Avenarius geleitet wurde. Die Sozialwissenschaftlerin Valerie Lange kommt in einer anderen neuen Untersuchung in beiden Ländern zu dem Ergebnis: Es sei „eindeutig, dass das kanadische System die Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund besser ausgleichen kann“. Ein differenzierender Unterricht, der jedem Schüler so viel individuelle Förderung wie nötig zukommen lässt, gehört an vielen kanadischen Schulen zum Standardprogramm.

VERSCHIEDENE GESCHWINDIGKEITEN

Im Marc Garneau Collegiate Institute zum Beispiel, einer Schule für die Jahrgänge 9 bis 12 in Toronto, haben 85 Prozent der Schüler eine andere Muttersprache als Englisch. Und jeder fünfte Lehrer ist darauf spezialisiert, Schülern bei der Integration zu helfen. Ein weiteres Beispiel für den integrativen Unterricht ist die Holy Angels Catholic School, eine staatliche Grundschule mit katholischer Ausrichtung. Die Mathematikklasse von Richard Sloan zum Beispiel. Der Lehrer steht an der computergesteuerten Tafel, spricht zu den Schülern über Symmetrie. Danach sollen sie Linien an der Tafel nachzeichnen. Nicht alle verstehen die Aufgabe auf Anhieb. Also teilt Lehrer Sloan seinen Unterricht in zwei Teile: eine kurze Präsentation, die manche sofort verstehen und nach der sie mit selbstständigen Arbeiten beginnen, gefolgt von einer ausführlicheren Erklärung vorne an der Tafel für jene, die es beim ersten Durchlauf nicht verstanden haben. „So kommen nicht nur Schüler mit Behinderungen, Sprachproblemen oder Lernschwierigkeiten besser mit, sondern auch jene aus schwierigen sozialen Verhältnissen oder mit Verhaltensproblemen“, sagt der Mathematiklehrer.

GRUPPENARBEIT WIRD WICHTIGER

Immer mehr Lehrer setzen auf nach Leistungsvermögen strukturierte Gruppenarbeit, oft mit Unterstützung von Sprach- und anderen Hilfslehrern. Und immer mehr Lehrer lassen sich in multikultureller Bildung schulen und versuchen, die anderen Erfahrungen von Schülern aus Einwandererfamilien nicht als Problem, sondern als Bereicherung zu nutzen. Lisa Leonie zum Beispiel. Sie ist Vizerektorin der Fossil Hill Public School am nördlichen Stadtrand Torontos. 80 Prozent ihrer Schüler stammen aus pakistanischen Einwandererfamilien. Die sprechen zu Hause Urdu, ihr Lebensmittelpunkt ist die Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde neben der Schule. Lisa Leonie motiviert die Schüler mit Hilfe ihrer Herkunftskultur und Muttersprache zum Lernen, zum Beispiel mit „Identity Texts“. Das sind Aufsätze, Zeichnungen und Kunstprojekte, in denen die Schüler von sich und ihrem Herkunftsland berichten und dadurch quasi fast nebenher Englisch und andere Inhalte des Lehrplans lernen.

ACHT JAHRE GEMEINSAMER UNTERRICHT

Allerdings lassen sich auch in Kanada deutliche Unterschiede zwischen den Einwanderergruppen feststellen. So haben asiatische und osteuropäische Einwanderer weniger Integrationsprobleme und bringen bessere Leistungen als viele Schüler mit karibischem Familienhintergrund oder Neukanadier aus Südamerika. Experten führen dies auf die unterschiedliche Bildung der Eltern zurück, aber auch auf soziale, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede.

Fast allen kanadischen Schulen gemein sind grundlegende Strukturen, die von Pädagogen als positiv für die Integration gesehen werden. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist, dass es keine Trennung in unterschiedliche Schulformen gibt. In der Regel besuchen alle Schüler eines Viertels gemeinsam die Elementary School einschließlich der 8. Klasse. Danach folgt die High School, die ebenfalls alle Schüler besuchen, allerdings mit zunehmend nach Interessen und beruflicher Ausrichtung getrennten Spezialisierungen.

Das kanadische Idealbild von einer absoluten Integration aller Schüler ist allerdings längst nicht in allen Schulen Realität. „Bei uns verteilten sich die Schüler in zwei ethnisch und sozial getrennte Gruppen, die im Alltag kaum miteinander zu tun hatten“, sagt Marybeth Christensen, eine Studentin, die kürzlich die High School abgeschlossen hat. „Auf der einen Seite sitzen die weißen und viele asiatische Studenten in eher akademisch ausgerichteten Kursen und engagieren sich in Arbeitsgemeinschaften – auf der anderen Seite sitzen meist schwarze und dunkelhäutige Schüler in den eher praktisch ausgerichteten Kursen.“ Im Alltag teilte man den Pausenhof und den Sport- und Musikunterricht, „aber eigentlich lebten die Schülergruppen in getrennten Welten“.

Ein weiteres Merkmal kanadischer Schulen, das auch in den letzten Pisa-Untersuchungen als einer der Gründe für das überdurchschnittlich gute Abschneiden von kanadischen Schülern aus Einwandererfamilien oder ethnischen Minderheiten genannt wurde: das umfangreiche Sprachförderprogramm für Schüler, deren Englischkenntnisse nicht ausreichen. Zwei oder mehr Jahre haben sie Anspruch auf speziellen Sprachunterricht. Dazu kommen Förderkurse und Betreuungslehrer, die in den Mittagspausen und am Nachmittag Zusatzkurse anbieten.

ELTERN BENENNEN PROBLEME

Die von Eltern geführte Lobbygruppe „People for Education“ kritisiert allerdings, dass es nicht genug Förderlehrer gebe. Auch seien viele Klassenlehrer damit überfordert, ihre Schüler so differenziert zu unterrichten wie erforderlich. Jede zweite Schule hat laut „People for Education“ Einwandererkinder, die speziellen Sprachunterricht benötigen, aber nur ein Drittel der Schulen hat entsprechend ausgebildete Lehrer – auch, weil Rektoren das Geld oftmals für andere, ebenfalls dringende Zwecke einsetzen. Das wird als einer der Gründe gesehen, wieso von den Schülern mit Migrationshintergrund nur jeder zweite auf Anhieb den Sprachtest besteht, der eine Voraussetzung des Schulabschlusses ist.

Ein weiteres Manko ist das geringe Angebot für Schüler, die mit dem akademischen Angebot der Schulen trotz Förderung nicht mithalten können und die in Deutschland in der dualen Ausbildung eine Lehrstelle bekämen. „Hier haben wir noch viel zu tun“, sagt Ken Thurston, Superintendent in einem Schulbezirk am nördlichen Stadtrand Torontos.

Trotz mancher Kritik überwiegen bei Besuchen an kanadischen Schulen die positiven Eindrücke zum Thema Integration. Dazu trägt auch die Vernetzung mit den Kiezen bei. Viele Schulen fungieren zugleich als Nachbarschaftszentrum, in dem Eltern Hilfe bekommen, die kürzlich ins Land gekommen sind – vom kostenlosen Sprachunterricht über Hilfe bei Behördengängen bis zur Rechtsberatung.

UNTERSTÜTZUNG VOM IMAM

„Wir beginnen lange vor dem ersten Schultag mit Veranstaltungen für die Eltern“, berichtet David Nimmo, Leiter der Teston Village Public School in Toronto. Er und seine Kollegen berichten den Eltern, was ihre Kinder in der Schule erwartet – oft mithilfe von Übersetzern. Sie verteilen Bastelzubehör und zweisprachige Bücher in Englisch und der Muttersprache der Schüler, damit sich die Familien vorbereiten können. Nimmos Kollegen versuchen außerdem, Ängste abzubauen. So erklären sie muslimischen Familien, dass sich hinter dem Fach Sexualkunde keine Werbeveranstaltung für Promiskuität verbirgt. Gemeinsam mit dem Imam der benachbarten Moschee machen sie deutlich, wie wichtig es ist, dass auch Mädchen schwimmen lernen und dass man die Sportklassen vorübergehend nach Geschlechtern trennen kann. Im Fastenmonat bietet man den Schülern Ruheräume an, in denen sie sich erholen, aber dennoch den größten Teil des Unterrichts verfolgen können .

MEHR RAUM FÜR ENTWICKLUNG

Im nicht immer lösbaren Konflikt zwischen Integration und Gleichbehandlung setzen viele kanadische Schulen auf Flexibilität – manchmal auch durch gelockerte Leistungsanforderungen, sagt Tharsi Yoganathan, Lehrerin in Toronto. „Unser Ziel ist es, Erfolgserlebnisse zu vermitteln.“ Ihre Erfahrung: Wenn Schüler durch Erfolgserlebnisse motiviert werden, steigert das ihre Leistung, so dass man nach einer Anfangsphase keine Kompromisse mehr machen muss. „In Deutschland setzt die Schule die Standards und legt Schüler zu früh fest“, sagt Yoganathan, die als Kind sechs Jahre in Berlin zur Schule ging, bevor ihre Familie nach Toronto zog. „In Kanada hingegen haben die Schüler länger Zeit, sich zu entwickeln. Das hilft bei der Integration.“

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