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Kommentar: Grüne: Weg mit dem Probejahr

Wer scheitert, gilt als Versager: vor sich selbst und auch vor Eltern und Mitschülern. Der bündnisgrüne Bildungspolitiker Özcan Mutlu fordert deshalb den Verzicht auf eine Probezeit am Gymnasium, dafür aber strengere Zugangskriterien.

Worum ging es bei der Schulreform ursprünglich? Kurz gesagt, um die Gleichwertigkeit der Bildungsgänge und mehr Chancengleichheit. Die soziale Herkunft sollte nicht länger über den Bildungserfolg entscheiden. Was SPD und Linke nun vorgelegt haben, verdient die Bezeichnung Reform jedoch nicht.

Eine Reform wäre es gewesen, wenn die soziale oder ethnische Herkunft der Kinder ihren schulischen Erfolg weniger als bisher vorherbestimmen würde. Eine Reform wäre es gewesen, wenn alle Kinder nach ihrem individuellen Bedarf gefördert würden, statt befürchten zu müssen, nach kurzer Zeit „abgeschult“ zu werden.

Nichts davon soll die Reform nunmehr leisten. Zwar soll das Probehalbjahr am Gymnasium auf ein Jahr verlängert werden, aber der grundlegende Unsinn der Probezeit bleibt bestehen. Was geschieht denn, wenn ein Schüler seine Probezeit nicht besteht und zwangsweise auf die Sekundarschule muss? Er steht als Versager und Verlierer da – in seinen Augen, in den Augen seiner Mitschüler und in denen seiner Eltern. Diesen Kindern wird am Gymnasium wieder einmal gesagt, wie wenig sie können, anstatt, dass ihre Fähigkeiten und Talente herausgearbeitet und gefördert werden. Das Probejahr ist zugleich ein Instrument, das die Gymnasien als die vermeintlich bessere Schule privilegiert. Die Sekundarschule als solche ist sicherlich keine Versageranstalt, aber der pädagogische Effekt ist gleichwohl verheerend. Von der behaupteten Gleichwertigkeit der beiden Bildungsgänge – immerhin ein Kernanliegen der Reform – kann keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, der rot-rote Kompromiss führt die Reform ad absurdum.

Nicht minder absurd ist es, bei Übernachfrage einen Teil der Schüler per Los herauszufiltern, denn dieses Verfahren erhöht das Risiko, die Probezeit nicht zu bestehen. Außerdem ist die scheinbar so objektive Chancengleichheit des Losverfahrens eine Illusion. Kinder aus sozial oder sprachlich benachteiligten Elternhäusern werden von vornherein häufiger im Lostopf landen als Kinder von engagierten und mobilen Eltern, da diese zumeist in der Gruppe derer sein werden, die von den Schule ausgewählt werden. Wie das Losverfahren schließlich in der Praxis umgesetzt und der Missbrauch verhindert werden soll, steht in den Sternen.

Das Elternwahlrecht ist zweifelsohne ein hohes Gut. Daran darf aber eine dringend nötige Reform nicht scheitern. Wer im Ergebnis keine Privilegierung der Gymnasien möchte, muss strenge Zugangskriterien definieren. Dann kann man auf ein Probejahr verzichten.

Özcan Mutlu ist bildungspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin

Özcan Mutlu

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