zum Hauptinhalt
Beziehungslehrerin. Gabriele von Wuntsch hat 34 Jahre lang Kunst unterrichtet. Die 63-Jährige verlässt nun die Fritz-Karsen-Schule in Britz.

© Kitty Kleist-Heinrich

Lehrerin in Neukölln: "Die Politik lässt die Lehrer im Stich"

Gabriele von Wuntsch hat in ihrem Berufsleben mehr als 20 Schulreformen erlebt. Ihren Enthusiasmus hat sie trotzdem nicht verloren.

Gabriele von Wuntsch steht in der Mädchentoilette der Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule in Neukölln und freut sich. Vor ihr posiert eine kurvenreiche Bauchtänzerin. Die Schüler haben ihr Schul-Klo mit gepinselten Frauenmotiven in eine verrückte kleine Galerie verwandelt.

Es passt zu Gabriele von Wuntsch, 63, Augen wie ein junges Mädchen, dass sie sich nun, nach 34 Jahren Schuldienst, und an dem Tag, an dem sie in den Ruhestand verabschiedet wird, noch für die Toiletten begeistert. Die Klos sind das Schlimmste, was Berlins Schulen zu bieten haben, aber die Haltung, mit denen Wuntsch und ihre Kollegen an dieses Thema herangehen, entspricht ihrer Einstellung gegenüber der ganzen Institution: Das Beste draus machen!

Dieses turbulente Schuljahr 2010/11 geht nun zu Ende, und für Gabriele von Wuntsch ein ganzes Schulleben voller Reformen, die man nicht alle aufzählen kann. Es sind über 20 allein in den letzten 20 Jahren und als zeitlose Schlagworte sind sie verrückter als bemalte Schultoiletten: Vereinigung der Ost- und West-Schulen, Behindertenintegration, Inklusion, Früheinschulung, Wegfall der Vorschulen, Ganztagsangebote, Horte, Zentralisierung der Prüfungen, Abschaffung des Beamtenstatus, Abschaffung der Hauptschulen, Sekundarschulreform, Jahrgangsübergreifendes Lernen (JüL), Turboabi, Wegfall des Wohnortprinzips für Oberschulen, Stundenzahlerhöhungen.

Sie fühlte sich wohl als Lehrerin. Auch an ihrem letzten Schultag

Es wäre nicht verwunderlich, würde einem Lehrer schwindlig werden. Oder würde er wütend werden. Aber wenn Gabriele von Wuntsch nun geht, schlägt sie nicht Türen hinter sich zu, atmet nicht auf, weil sie raus ist aus diesem Schulkampf, der viele Lehrer krank macht. Sie hört auf, weil es sich noch gut anfühlt, Lehrerin zu sein. Trotz allem.

Und wer kann das schon sagen von Berlins Lehrern, die sich überfordert fühlen von der Politik, obwohl diese doch behauptet, Schule und Bildung seien ihr wichtigstes Thema. Für Eltern ist Schule ohnehin immer ein Politikum. Gerade das zurückliegende Jahr hat das mal wieder gezeigt, heftig wurde diskutiert, gestritten, demonstriert. Wuntsch war bei den Demos dabei, sie sagt: „Die Politik lässt die Lehrer im Stich.“

Sie ist noch fit, aber sie beobachtet, dass „immer mehr Kollegen auf dem Zahnfleisch gehen“, weil ihnen immer mehr aufgebürdet werde. Sie hat nichts gegen Reformen, nichts gegen JüL, nichts gegen die neue Sekundarschulreform, aber, sagt sie, „es sind nur die richtigen Überschriften, dahinter kommt ja nichts, nicht mehr Mittel, nicht mehr Personal“.

Ein Beispiel, wo die Schulen im Stich gelassen werden, sei diese „Hundertprozentausstattung der Schulen“. Damit ist gemeint, dass jede Schule nicht einen Lehrer über Bedarf beschäftigen darf. Sowie Lehrer krank werden, bricht alles zusammen, Unterricht fällt aus, Eltern sind sauer, Direktoren sind hilflos, weil sie nicht wissen, wie schnell kommt der Kollege zurück. Früher, sagt Wuntsch, habe man bei 105 oder 108 Prozent Personal gelegen „und weniger Stunden unterrichtet“.

Lesen Sie auf Seite zwei, warum Gabriele von Wuntsch gerne an der Schule in Britz war.

Sie war gerne an der Schule in Britz, an der beschaulichen Onkel-Bräsig-Straße gelegen und noch weit genug entfernt von den wirklich sozialen Brennpunkten Neuköllns. Der erste Gedanke, den man hat, wenn man Gabriele von Wuntsch trifft, ist: Schade, dass sie geht. Der zweite Gedanke ist: Wie hat sie es geschafft, unbeschadet durch diese Zeit zu kommen? Wenn man sie fragt, antwortet sie mit dem Satz: „Ich weiß es nicht.“ Aber dieser Satz ist ein Trick, um nicht in den Verdacht zu geraten, sie wisse es besser als andere.

Politik und Reformen, das ist das eine, das andere sind die Kinder. Keine Reform der Welt verhindert engagierten Unterricht. Und so hat Gabriele von Wuntsch einfach immer weiter unterrichtet.

In einer ihrer letzten Stunden steht sie vor einer siebten Klasse, es ist schon 15 Uhr. Wuntsch, in Quedlinburg geboren, mit sechs Jahren nach Ost-Berlin, mit elf Jahren rüber in den Westen, lehrte Mathematik und Kunst. Kunst wird in der Mittelstufe nur noch ein halbes Jahr lang angeboten, meist in der achten und neunten Stunde. Schüler und Lehrer müssen da gute Nerven haben – oder Spaß.

Viele Kinder sind noch konzentriert mit ihren Aufgaben beschäftigt. Sie malen bunte Fantasiefische, schneiden Albrecht Dürers Panzernashorn aus und setzen es neu zusammen oder üben, wie man ein Bild mit einem einzigen Strich zeichnet. Diese letzten Stunden vor der Sommerpause sind kein guter Maßstab, weil alle an die Ferien denken, aber sie verraten ein wenig über die Art, wie Wuntsch ihren Schülern gegenübertritt: mit Respekt und stets bemüht, Anregungen zu geben. Nur Angst vor den Schülern, sagt sie, dürfe ein Lehrer niemals haben.

Ihr pädagogisches Konzept baut auf dem Miteinander auf

An dieser Stelle ist ihre tiefste Überzeugung versteckt: Schulen müssen Beziehungsarbeit leisten. Das ist mehr als Unterricht. Die Fritz-Karsen-Schule – ausgestattet mit Grund-, Mittel- und gymnasialer Oberstufe – ist dafür ein idealer Ort. Diese Schule hat immer versucht, ihr pädagogisches Konzept auf dem Miteinander aufzubauen. Hier ist es möglich, dass Schüler von der ersten bis zur 13. Klasse zusammenbleiben. „Demokratieerziehung“ nennt Wuntsch das auch.

Vielleicht braucht man Überzeugungen als Lehrer, um sich den wandelnden gesellschaftlichen Ansprüchen anzupassen. Der ideale Lehrer darf vermutlich kein Kontroll- oder Ordnungstyp sein, er muss Grenzen setzen können, das schon, aber auch bereit sein, sich von seinen Schülern überraschen zu lassen. Gabriele von Wuntsch findet, es sei nicht schlimmer geworden zu unterrichten – „nur anders“. Die neuen Kommunikationsformen etwa spiegeln sich im Verhalten der Schüler wider. Ruhig am Tisch sitzen falle vielen schwer. Verabredungen werden per Laptop oder SMS getroffen. Das Anspruchsverhalten sei enorm gestiegen, nach dem Motto: Unterhalte mich, sonst zapp ich dich weg.

Sie hat sich nicht wegzappen lassen. Vielleicht hat sie es geschafft, eine Balance zu entwickeln zwischen Nähe und Distanz.

Draußen auf dem Hof schlängelt sich ein langes Ungetüm über den Boden, eine Schlange aus Beton. Das war auch so eine Beziehungstat: Der Hausmeister saß ihnen gegenüber und hat schweigend zugeschaut, wie Wuntsch und die Schüler Beton mischten und ausprobieren mussten, wie man den „richtig schmeißt, damit er nicht wieder abfällt“. Es war für alle Beteiligten etwas Neues, verrückt eben wie die Toiletten-Malerei, und lehrreich.

Distanz ist ein legitimer Schutz für Lehrer, um diesen Beruf professionell ausüben zu können. Aber ohne Empathie kann man diesen Beruf ganz bestimmt nicht ausüben. Jedenfalls nicht gut.

Zur Startseite