zum Hauptinhalt
Alles neu. In der Pubertät finden im Gehirn „Umbauarbeiten“ statt.

© imago/RelaXimages

Lernen in der Pubertät: Zwischen Lethargie und Lerneifer

Wenn Schüler in die Pubertät kommen, verändert sich die Art, wie sie lernen. Das ist eine Herausforderung – und eine Chance.

Der junge Lehrer lässt seine halbwüchsigen Schüler auf die Tische des Klassenzimmers steigen. Es geht um den Überblick. „Gentlemen, Sie müssen sich um eine eigene Perspektive bemühen!“, ruft John Keating in den Raum. Mit beträchtlicher Energie kämpfen die Zöglinge des Elite-Internats in dem Kultfilm „Der Club der toten Dichter“ aus dem Jahr 1989 darum, ihre Lebensträume einer von den Eltern und der Gesellschaft vorgefertigten Karrierebahn entgegenzusetzen.

Beträchtliche Energie? Mehr als 40 Prozent der 12- bis 17-Jährigen fühlen sich laut einer Bremer Studie immer wieder niedergeschlagen und antriebslos. Vor allem morgens, wenn der Wecker klingelt, ist 13- bis 17-jährigen Schülerinnen und Schülern jedwede Form von Power nur in den seltensten Fällen anzumerken.

Schlafrhythmus verschiebt sich

Inzwischen hat die Wissenschaft zu diesem Punkt eindeutig Stellung bezogen: Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird in der Pubertät um eine bis zwei Stunden nach hinten verschoben, es hat also biologische Gründe, wenn Adoleszenten abends nicht ins Bett und frühmorgens nicht heraus finden. Chronobiologen und Jugendärzte plädieren deshalb immer wieder dafür, den Unterricht für diese Altersgruppe später beginnen zu lassen.

Auch eine ausgeschlafene Gruppe Pubertierender stellt Lehrerinnen und Lehrer aber vor beträchtliche Herausforderungen. Und auch sie haben mit der körperlichen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu tun. Fakt ist: Die Veränderungen in der Pubertät, dieser „zur Geschlechtsreife führenden Entwicklungsphase des jugendlichen Menschen“ (Duden), sorgen dafür, dass die Lerngruppen zeitweise extrem heterogen sind: „Nie sind die körperlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Klasse so groß wie zwischen dem elften und dem 16. Lebensjahr“, stellt der Kinderarzt Remo Largo in dem Buch „Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten“ fest, das er mit der Journalistin und Filmemacherin Monika Czernin verfasst hat.

Umbauarbeiten im Gehirn

Dass in der Pubertät Geschlechtshormone die Körper verändern, dass die Kinder mehr oder weniger schnell in die Höhe schießen, dass Mädchen weibliche Rundungen und Jungen brüchige und schließlich tiefe Stimmen bekommen, ist nicht zu verkennen. Was in dieser Lebensphase im Kopf passiert, wird dagegen oft unterschätzt: Während dort das limbische, für Emotionen zuständige System die Oberhand gewinnt, geraten Regionen im Stirnhirn, die für rationale Kontrolle zuständig sind, zeitweilig ins Hintertreffen, erklärt die Neuropsychologin Kerstin Konrad von der Uni Aachen. Im Stirnhirn finden heftige Umbauarbeiten statt, aus grauer wird dabei vermehrt weiße, mit schützendem Myelin ummantelte Substanz. Die Mechanismen, die für eine Balance zwischen Gefühlen und rationalen Erwägungen sorgen, sind also zeitweise besonders störanfällig.

Das Bild unzurechnungsfähiger „Halbstarker“ ist zwar holzschnittartig. Statistisch aber ist klar: In dieser Altersphase fallen vermehrt riskante Entscheidungen, besonders in Gruppen von Gleichaltrigen. In der frühen Adoleszenz nehmen zudem die Hälfte aller Störungen der Impulskontrolle und aller Angststörungen ihren Ausgang. Etwas später beginnen häufig Essstörungen und Suchtprobleme.

Jugendliche lernen durch Belohnung

Denn es gibt ein Regelwerk im Gehirn, das in diesem Alter besonders sensibel reagiert: Das Belohnungssystem. Jugendliche lernen deshalb fast ausschließlich durch Belohnung, nicht durch Bestrafung, sagen Forscher um Stefan Palminteri vom University College in London. Sie haben für eine ihrer Studien, die sie im letzten Jahr in PLOS Computional Biology veröffentlichten, 50 Versuchspersonen ein Spiel mit verschiedenen Symbolen spielen lassen. Ihr Auftauchen auf dem Bildschirm war mit unterschiedlich hohen Gewinnchancen verbunden, die sich nach einiger Zeit gut abschätzen ließen. Wie sich herausstellte, merkten sich die jugendlichen Teilnehmer zwischen zwölf und 17 Jahren besonders gut die Zeichen, die mit einem Punktgewinn verbunden waren. Deutlich schlechter als Erwachsene waren sie darin, auch die Symbole im Kopf zu behalten, bei deren Erscheinen Punktabzug drohte. „Die Ergebnisse legen nahe, dass Jugendliche mehr von positivem als von negativem Feedback profitieren könnten, um ihr Verhalten zu verbessern“, folgern die Autoren.

Ganz wichtig: die Peergroup

Auch wenn sie es sich nicht mehr so stark anmerken lassen wie kleinere Kinder, können Misserfolge sie extrem entmutigen. Dass Mädchen und Jungen die Schuld dafür an ganz verschiedenen Orten suchen, zeigte die Längsschnittstudie AIDA ( Adaption in der Adoleszenz), für die Berliner Jugendliche aus über 100 Schulen über Jahre Fragebogen ausfüllten. Die Mädchen neigten dazu, sich selbst für „dumm“ zu halten, die Jungen gaben eher den Lehrern die Schuld, wenn ihre Leistungen absackten. Beiden Geschlechtern ist in diesem Alter allerdings die „Peergroup“ der Gleichaltrigen besonders wichtig. Der Erziehungswissenschaftler Günther Opp aus Halle plädiert in seinem Buch „Kinder stärken Kinder“ deshalb dafür, dieses Interesse für eine „positive Peerkultur“ zu nutzen.

Anders als kleinere Kinder legen sich Jugendliche in der Schule nicht mehr deshalb ins Zeug, weil sie ihren geliebten und bewunderten Lehrerinnen und Lehrern gefallen wollen. „Die Schüler sehen die Lehrer nicht mehr durch die rosa Brille der emotionalen Abhängigkeit“, konstatiert Largo. Was nicht heißt, dass Erwartungen der Erwachsenen, vor allem der Eltern, sie nicht unter Druck setzen könnten. Fast 80 Prozent der Jugendlichen bejahen die Aussage „Meine Eltern möchten, dass ich sehr gute Noten nach Hause bringe“, so zeigt die AIDA-Studie. Dabei haben nur rund zehn Prozent der Schüler dieser Altersgruppe gute bis sehr gute Noten. Man muss realistisch sehen, dass es schon ab der zweiten Klasse der Grundschule mit dem Notendurchschnitt bergab geht und das bis zum Ende der Mittelstufe.

Praktische Projekte in den Unterricht integrieren

Wenn die Schule in dieser Lebensphase für alle Beteiligten zur Herausforderung wird – spricht das dann nicht für eine radikale „Entschulung“ der Mittelstufe, wie der Pädagoge Hartmut von Hentig sie vor einigen Jahrzehnten forderte? Raus aus der Schule, rein ins „richtige Leben“? Auch Remo Largo plädiert dafür, mehr praktische Projekte in den Unterricht zu integrieren: „Jugendliche wollen sich Fertigkeiten aneignen, die sie im wirklichen Leben brauchen können.“ Allerdings betont er auch, wie groß das Interesse an intellektueller Auseinandersetzung und die Leidenschaft für Spezialgebiete in diesem Alter werden können. Die rege Teilnahme an Mathematik-Wettbewerben und „Jugend forscht“ beweist es. Dazu kommt: Selbst Lehrer und Lehrerinnen kann man als Jugendlicher mögen – wenn sie fachlich und menschlich kompetent sind. Als größtes Problem sieht Largo es an, wenn Jugendliche sich längere Zeit über- oder unterfordert fühlen. Und wenn das keiner merkt, weil sie ihr Unbehagen mit passivem oder unangepasstem Verhalten überspielen.

Dabei ist die Phase des Umbruchs in Körper und Kopf immens wichtig. Die Jugendlichen können sich nur so aus der „familiären Sicherheitsnische“ lösen, vermutet Neuropsychologin Konrad. Auch die Gesellschaft profitiert, meint der Erlanger Neurobiologe und Autor Ralph Dawirs: „Pubertät ist der Bioreaktor für zukunftsweisende Innovationen.“ Kinderarzt Remo Largo rät deshalb: „Für den wichtigen Beitrag, den Jugendliche durch ihre Kreativität und ihr innovatives Potenzial für die Gesellschaft leisten, sollten wir Erwachsenen dankbar sein und die Schattenseiten der Pubertät wie Chaos und Risikoverhalten in Kauf nehmen.“

Zur Startseite