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Kleine Wikinger versammeln sich beim skandinavischen Frühlingsfest der Deutsch Skandinavischen Gemeinschaftsschule in Berlin-Tempelhof.

© Promo/DSG

Lernen in freien Schulen: „Freiheit heißt auch Verantwortung“

"Fürs Leben lernen" lautet in diesem Jahr das Motto des Tags der Freien Schulen – zwei Beispiele, wie das gelingen kann.

Gutgelaunte Kinder, scherzende Lehrer, ein flottes „Hej“ von jedem, dem man begegnet: An der Deutsch Skandinavischen Gemeinschaftsschule (DSG) in Tempelhof herrscht gute Stimmung. Man fühlt sich ein bisschen wie im Ikea-Katalog, nur dass die Möbel weniger neu aussehen. Gerade ist Unterricht – was allerdings nicht heißt, dass alle Kinder hinter geschlossenen Klassenzimmertüren sitzen. Das selbstständige Arbeiten, auf das die Montessori-geprägte DSG setzt, kann schließlich auch in der Küche, in der Bibliothek oder im Flur geschehen.

„Fürs Leben lernen“ ist in diesem Jahr das Motto beim Berliner Tag der Freien Schulen am kommenden Sonntag, dem 18. September. Im Mittelpunkt soll das soziale Miteinander stehen. „Wir wollen zeigen, dass Menschen in der Schule sich Zeit nehmen zum Zuhören, Raum bieten zum Nachdenken, zum Unterschiede besprechen, bewundern, bearbeiten und sich umeinander kümmern“, heißt es dazu vom Veranstalter, der Arbeitsgemeinschaft „Schulen in freier Trägerschaft Berlin“.

Die DSG ist mit ihrem freien Lernen ein wunderbares Beispiel hierfür. Ein bisschen Frontalunterricht gibt es aber dennoch: „Schau mal, wir haben sogar eine Tafel“, sagt die Dänin Gitte Ertbirk lachend, während sie durch ihre Eingangsstufen-Klasse führt. 20 Kinder der ersten, zweiten und dritten Klasse unterrichtet sie hier gemeinsam mit ihrer Kollegin – auf deutsch und auf dänisch.

Der Raum ist gemütlich unterteilt, Regale mit vielen Arbeitsmaterialien, Büchern und Spielen säumen die Wände, eine Ecke ist mit Sitzbänken und Spielteppichen ausgelegt. Hier treffen sich die Kinder jeden Morgen, um die Aufgaben zu bestimmen, die sie anschließend selbstständig erledigen. Anregungen dafür bekommen sie von den Lehrern, die genau im Auge behalten, wo die Stärken und Schwächen jedes Kindes liegen. „Wir erziehen die Kinder zur Freiheit“, sagt Gitte Ertbirk, „aber wir wollen ihnen vermitteln, dass Freiheit auch Verantwortung bedeutet.“

Zum Thema "Herbst" wird gebacken, gerechnet und gesammelt

Zu vielen Themen wird fächerübergreifend gearbeitet. Beim aktuellen Thema „Herbst“ etwa unternehmen die Kinder Ausflüge und sammeln Blätter, sie lernen Baumarten kennen, backen Apfelkuchen, beschäftigten sich damit, welche Vögel wegfliegen und wie die Tiere hier überwintern, sie messen täglich die Temperatur und lernen so, Skalen anzulegen. Von Sachkunde, Biologie, Mathematik bis zur Kochstunde fließt alles zusammen.

Vor vier Jahren hat Gitte Ertbirk, die einen deutschen Ehemann hat, gemeinsam mit fünf anderen Eltern die Schule gegründet. Mit der skandinavisch geprägten DSG haben sie eine Lücke im bereits sehr vielfältigen Angebot der freien Schulen in Berlin gefüllt. Und der Einsatz hat sich gelohnt: Mittlerweile ist die Schülerzahl von zunächst 28 auf 171 Kinder angewachsen, verschiedene Stiftungen unterstützen die Schule, und es konnte sogar eine ganz besondere Schirmherrin gewonnen werden: Prinzessin Benedikte zu Dänemark, die wohl einzige Person, die im Hause jemals gesiezt wurde. Gelehrt und gearbeitet wird auf Dänisch, Schwedisch oder Norwegisch, jeweils in Kombination mit Deutsch.

Die skandinavische Schulform stand für die Gründer im Vordergrund, sagt Gitte Ertbirk: „Die Kinder bleiben von der ersten bis zur zehnten Klasse zusammen – oder sogar länger, wenn wir in Zukunft das Abitur anbieten können. Wir begegnen ihnen auf Augenhöhe, wie etwa bei uns in Dänemark, wo man sehr demokratisch mit ihnen umgeht. Wir zwingen sie zu nichts, sondern versuchen, sie zu motivieren und ihnen einen Rahmen zu geben, um sich wohlzufühlen. Erst wenn ein Kind emotional bereit ist für den Unterricht, wird es auch gut lernen.“

Klare Rituale geben den Kindern Sicherheit

Dieser sanfte, respektvolle Zugang zum Kind, der sich an dem Motto „Lernen mit Hand, Hirn und Herz“ des bekannten Pädagogen Johannes Pestalozzi orientiert, gilt ebenso für die Freie Waldorfschule Kreuzberg. Auch hier ist das Ziel, individuell auf die Kinder einzugehen und sie nicht ausschließlich in ihren intellektuellen, sondern gleichzeitig in ihren praktischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu bestärken.

Trotz vieler Gemeinsamkeiten der beiden Schulen überwiegen allerdings die Unterschiede. Anders als beim Montessori-Konzept ist in der Kreuzberger Schule der feste Klassenverband wichtig, und sowohl der tägliche Unterricht als auch das ganze Schuljahr folgen klaren Rhythmen. Die Trauma-Therapeutin Wassima Schulz schätzt diese typischen Aspekte der Waldorfpädagogik – für ihre eigenen Kinder, die die Kreuzberger Schule jahrelang besuchten, ebenso wie für die Willkommensklasse, die sie seit dem vergangenen Jahr hier selber leitet.

Nicht zu übersehen ist das rote Gebäude der Freien Waldorfschule Kreuzberg.
Nicht zu übersehen ist das rote Gebäude der Freien Waldorfschule Kreuzberg.

© Kerstin Zillmer

Die gebürtige Ägypterin, die an der Schule als Psychologin, Pädagogin, Übersetzerin, interkulturelle Trainerin, Koordinatorin und Ansprechpartnerin in Generalunion fungiert, teilt sich den Unterricht mit einer Deutschlehrerin. Ganz wichtig findet sie, dass die Kinder möglichst schnell in die normalen Klassen aufgeteilt werden. Den besonderen Schutz einer eigenen geschlossenen Gruppe brauchen sie ihrer Ansicht nicht: „Grade in den unteren Klassen gibt es viele Rituale, außerdem wird handwerklich und künstlerisch gearbeitet. Das gibt den Flüchtlingskindern Stabilität und Sicherheit. Und durch die vielen Wiederholungen und das Nachahmen – ein klassisches Element der Waldorfpädagogik – lernen sie ganz automatisch mit.“

Mit viel Engagement wurde eine Willkommensklasse eröffnet

Die Frage, ob die Schule überhaupt eine Willkommensklasse eröffnen soll, wurde zunächst heiß diskutiert. Vielen Lehrern und Eltern war unklar, wie man die eventuell stark belasteten Kinder am besten integrieren könne. Die regulären Klassen sind bereits sehr groß, während die Inklusionsklassen zwar einen besseren Betreuungsschlüssel, aber auch Kinder mit besonderem Förderbedarf haben.

Als die Entscheidung für eine Willkommensklasse schließlich gefallen war, wurde sie auf waldorftypische Art umgesetzt: mit viel Engagement von allen Seiten, durchaus auch unbezahltem. So gaben Lehrer unentgeltlich Unterricht, Oberstüfler wurden zu Paten und fuhren mit den „Willkommenskinder“ in den Zoo und ins Aquarium, Eltern sammelten Sachspenden.

Mittlerweile sind alle begeistert, sagt Wassima Schulz: „Nach einem knappen Jahr sprechen die Kinder sehr gut deutsch, sie fühlen sich wohl hier und sind vertrauter mit der hiesigen Kultur – und auch die anderen Schüler profitieren von den Neuen.“ Die Kreuzberger Waldorfschule mit ihrer knallroten Aula ist so noch ein bisschen bunter geworden.

Judith Hyams

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