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Eine Erstklässlerin mit ihren Schreibübungen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Lese-Rechtschreibstörung: Wenn die Wörter Widerstand leisten

Eines von 20 Kindern hat auffallende Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Schlimm ist eine Lese-Rechtschreibstörung nicht. Doch das Kind sollte möglichst früh maßgeschneiderte Hilfe bekommen.

„Zweimal in deinem Leben spürst du, dass du von allen anerkannt wirst – wenn du laufen lernst und wenn du lesen lernst.“ Man könnte den Satz der amerikanischen Schriftstellerin Penelope Fitzgerald noch um andere Fertigkeiten ergänzen, deren Erwerb Kindern Anerkennung einträgt, zum Beispiel Fahrrad fahren oder Schwimmen. Doch dass ein Kind den Schlüssel zur Schrift in der Hand hält, dass Ansammlungen unscheinbarer schwarzer Striche und Bögen auf einem Blatt Papier oder einem Bildschirm plötzlich Sinn machen, das ist ohne Zweifel ein riesiger Meilenstein in seiner Entwicklung. Zumindest in einer Schriftkultur wie der unseren.

Fitzgerald selbst konnte schon mit vier Jahren lesen. „Die Buchstaben auf der Seite lenkten plötzlich ein und enthüllten, wofür sie standen. Sie zogen mich völlig und mit einem Schlag in ihren Bann.“ Bekanntlich dauert es unterschiedlich lang, bis die Buchstaben derart „einlenken“. Bei den allermeisten Kindern tun sie das im Verlauf der ersten beiden Schuljahre. Ungefähr eines von 20 Kindern tut sich mit der Welt der Buchstaben und ihrer Kombinationen aber so schwer, dass diese Lesestörung zu Problemen in der Schule führt. Kommen auch Schwierigkeiten mit der richtigen Schreibweise der Wörter hinzu, so spricht man von einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS). Der bekanntere Begriff Legasthenie meint der Bedeutung der griechischen Ausgangswörter nach streng genommen nur die Leseschwäche, auch Dyslexie genannt.

Kindern steht ein Nachteilsausgleich zu

Vor allem diese Schwierigkeiten beim Lesen sind, wenn der Unterricht anspruchsvoller wird, in praktisch allen Schulfächern ein Handicap. Doch es gibt inzwischen auch einige gute Nachrichten: Zunächst ist das Bewusstsein für das Problem bei Eltern und Lehrern in den vergangenen Jahrzehnten gewachsen. Die betroffenen Kinder werden längst nicht mehr einfach als faul, unwillig oder gar dumm abgestempelt. Ihnen steht in der Schule ein Nachteilsausgleich zu, und sie profitieren zudem von ausgefeilten Lerntherapien.

Zur gerechteren Einschätzung hat sicher auch beigetragen, dass aus der Forschung in den vergangenen Jahren immer mehr Belege für eine biologische Grundlage der Lese-Rechtschreibstörung kamen. „Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Ursache auch in den Genen liegt“, sagt der Neuropsychologe Michael Skeide vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. In der vergangenen Woche bekam die Arbeitsgruppe des Wissenschaftlers für eine ihrer Untersuchungen von der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie einen renommierten Preis. Sie hatten bei insgesamt 141 Schülerinnen und Schülern der Klassen vier bis acht und bei Kindergartenkindern, deren Geschicke sie bis zur Einschulung verfolgten, Gentests und in einem MRT-Gerät einen „Hirn-Scan“ gemacht. Dabei stellte sich heraus, dass Kinder mit einer bestimmten Variante im Gen NRSN1, das für die Entwicklung von Nervenzellen bedeutsam ist, sich auch in der Struktur einer Hirnregion, die beim Lesen aktiviert wird, von Kindern ohne diese genetische Besonderheit unterschieden. Diese „Visual Word Form Area“ ist generell für das Erkennen unveränderlicher Objekte, speziell aber auch für das Erkennen von Buchstaben und Wörtern zuständig. Für eine Fähigkeit also, die über weite Strecken der Menschheitsgeschichte noch gar keine Rolle spielte.

Der Verdacht kommt meist gegen Ende der ersten Klasse auf

Heute allerdings ist es für den ganzen Lebensweg entscheidend, ob jemand die korrekte Schreibung von Wörtern aus der Mutter- oder den Fremdsprachen einigermaßen zuverlässig im Gehirn abspeichern kann, vor allem aber, ob er oder sie in der Lage ist, flüssig zu lesen. Der Verdacht, dass ein Kind an einer Lese-Rechtschreibstörung leiden könnte, kommt meist schon gegen Ende der ersten Klasse auf. Allerdings entwickeln sich Kinder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sodass eine Einschätzung gerade zu Beginn der Schulzeit schwierig ist.

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Ute Krüger ist in ihrer Praxis in Prenzlauer Berg immer wieder vor diese Aufgabe gestellt. Bei der Diagnostik helfen ihr verschiedene altersgerechte Tests, die im Lauf der Jahre wiederholt werden müssen. „Wichtig ist zum Beispiel, ob es eine Differenz zwischen den Leistungen beim Lesen und dem Intelligenzquotienten des Kindes gibt.“ Wird dem Kind eine Lese-Rechtschreibstörung attestiert, so kann es in der Schule den bewussten „Nachteilsausgleich“ bekommen, zum Beispiel mehr Zeit und ein Aussetzen der Benotung für die Rechtschreibung.

Worauf es bei Therapien ankommt

Dass es gerecht behandelt wird, ist jedoch nicht das einzige Ziel. Das Kind möchte und soll ja auch Fortschritte machen, im besten Fall die Gleichaltrigen „einholen“. Eltern versuchen in ihrer Verzweiflung vieles vergeblich, um das zu erreichen. In der 2015 erschienenen Leitlinie zu Lese-Rechtschreibstörungen, die die einschlägigen Fachgesellschaften herausgegeben haben, sind auch Therapien aufgelistet, die nicht empfohlen werden, weil wissenschaftliche Belege fehlen: Homöopathie, Osteopathie, Nahrungsergänzungsmittel, Prismenbrillen, Farbfolien.

Stattdessen soll die Behandlung direkt bei den Symptomen ansetzen. Sie soll Übungen zur Entsprechung von gesprochenen und geschriebenen Silben, zum Zergliedern von Wörtern und umgekehrt zur Verbindung von Phonemen enthalten. Ganz praktisch gesehen kann es zudem nützlich sein, Texte mit breiteren Buchstaben und größerem Abstand zwischen den Wörtern und den Zeilen und in vergrößerter Schrift auszudrucken. Bei Rechtschreib-Problemen wirkt offensichtlich das Unspektakulärste am besten: Den Kindern unermüdlich dabei zu helfen, einen Wissensschatz von Regeln zu verinnerlichen, wozu auch das regelmäßige Lesen sehr viel beiträgt.

Oft müssen Familien eine Lerntherapie selbst bezahlen

Sobald die offizielle Diagnose vorliegt, können Familien beim Jugendamt eine Lerntherapie beantragen. Allerdings sei das in vielen Fällen schwierig geworden, da das Kinder- und Jugendhilfegesetz seit zwei Jahren solche Hilfen nur für Kinder mit einer „seelischen Störung“ vorsieht, bedauert Krüger. „Zwar haben einige Kinder häufiger außer den Problemen mit dem Lesen oder Schreiben noch eine Konzentrationsschwäche, leiden unter dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) oder entwickeln vor dem Hintergrund schlechter schulischer Bewertungen Selbstwertprobleme und depressive Tendenzen, doch es gibt glücklicherweise viele Kinder, die nur die schulische Entwicklungsstörung haben und psychisch ganz gesund sind.“ Wer eine Lerntherapie privat bezahlen muss, belastet das Familienbudget monatlich mit rund 200 Euro.

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin findet es sehr schade, dass einige Betroffene erst spät oder gar nicht den Weg zur Diagnostik finden – und deshalb weder eine professionelle Lerntherapie noch den Nachteilsausgleich für ihr Kind beantragen können. „Einige Familien quälen sich allein da durch, oft nur deshalb, weil sie einen Vermerk im Zeugnis vermeiden möchten, da sie eine spätere Beeinträchtigung in der schulischen oder beruflichen Laufbahn für ihr Kind befürchten.“

Gemeinsam lesen kann helfen

Eine Sache sollte auf jeden Fall ganz privat geschehen: Das gemeinsame Lesen von Büchern, die für das Kind spannend sind. Ein Elternteil wechselt sich dabei mit dem Kind ab. Ein zeitintensives, aber effektives Training mit eingebautem Nähe-Faktor. „Nach einem Monat liest das Kind vier Zeilen in der gleichen Zeit, in der es vorher zwei Zeilen geschafft hat“, versichert Krüger. Geduld ist nötig, zahlt sich aber aus.

Die engagierte Ärztin plädiert seit Jahren für einen offenen Umgang mit der Lese-Rechtschreibstörung. Und für ein Hervorheben der Stärken des Kindes – die auch im Fach Deutsch liegen können. „Das Gute ist ja, dass man sich in diesem Schulfach auch mit mündlichen Beiträgen gut profilieren kann. Und selbst mit einer schlechten Note in Deutsch kann man ein gutes Abitur machen.“

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