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© Doris Spiekermann-Klaas

Missbrauch: Wenn Lehrer schweigen

Warum bleiben Missbrauchsfälle an Schulen jahrelang unentdeckt? Weil die Täter geschickt und strategisch vorgehen. Kollegen, die helfen könnten, werden oft in ein Netz von Abhängigkeiten verstrickt – und trauen sich nicht einzuschreiten.

Von Patricia Wolf

Sexueller Missbrauch braucht kein Internatsbett, und Übergriffe von Lehrern auf Schüler sind kein typisch katholisches Problem. Waren es zunächst vorwiegend Betroffene aus kirchlichen Schulen, die couragiert von ihren Schicksalen berichteten, mehren sich nun auch Wortmeldungen von Opfern aus anderen pädagogischen Einrichtungen. Wie ist es ihnen ergangen? War der weltliche Umgang mit der Problemstellung sauberer und besser als die kirchliche Vertuschungspraxis?

Wenn Lehrer wegen Missbrauchsdelikten vor Gericht stehen, geht es nicht selten um eine zwei- bis dreistellige Anzahl von Tatvorwürfen. In der Regel gab es in der beruflichen Vorgeschichte bereits früher Vorkommnisse, die von Opfern, beziehungsweise deren Eltern, erfolglos beklagt worden waren. Übergriffe von Lehrkräften auf Schüler gibt es in allen Schultypen, immer wieder und überall. Mindestens dreistellig sind die Fälle, die allein zwischen 1999 und 2009 in Deutschland durch Medienberichte bekannt wurden. Berücksichtigt man, dass weder alle Fälle zur Anzeige gebracht noch alle angezeigten öffentlich werden, ist diese Zahl noch erschreckender. Wie war das möglich und warum blieben die Täter oft so lange unentdeckt?

Wie Kriminalisten beobachten, gehen intelligente, gebildete Pädokriminelle oft sehr strategisch vor. Viele von ihnen wählen kindernahe Berufe und Freizeitaktivitäten. Durch publicityträchtiges Engagement in angesehenen Ehrenämtern, auch im Kinderschutz, erhöhen sie die Hemmschwelle für Widerstand und Kritik. Als Kollegen sind sie vielfach sehr beliebt. Sie übernehmen unbeliebte Dienste, sind hilfsbereit, verständnisvoll und tröstend. Im Dauerstressklima des Schulalltags bieten sie Kollegen eine Schulter zum Ausweinen – und erlangen so mitunter profunde Kenntnis von deren Schwachstellen. Ein günstiger erster Baustein für eine solide Mauer des Schweigens, sollte sie einmal benötigt werden.

Seit einigen Jahren führen nachgewiesene pädokriminelle Handlungen, auch der Besitz ihrer Darstellungen (Kinderpornografie), zum Ausschluss aus dem Schuldienst und können zum Verlust des Beamtenstatus führen. Bei einem Missbrauchvorwurf stehen Existenzen auf dem Spiel. Das birgt Panikpotenzial für Pädagogen. Erfahrene Kollegen geben Neulingen die Empfehlung weiter, immer die Tür aufstehen zu lassen, wenn man mit einzelnen Schülern alleine im Saal ist.

Betrachtet man einschlägige Konfliktverfahren, scheint die Angst, Opfer eines gezielten falschen Vorwurfs zu werden, bei Pädagogen oft präsenter als Empathie und Engagement für mögliche Opfer eines Kollegen. Ein Lehrer, der nicht genannt werden möchte, beschreibt: „Weder in meiner Ausbildung noch in Fortbildungen oder Konferenzen war das Thema sexueller Missbrauch beziehungsweise Nötigung durch Lehrer je ein Thema. Es gibt für uns keine vergleichbaren konkreten Anweisungen, wie wir sie beispielsweise für die Fälle von Gewalt unter Schülern haben.“ Als es dann im Kollegium einmal zu einem Verdachtsfall gekommen sei, habe er die Initiative, etwas zu unternehmen, dem Opfer überlassen. Er habe sich überfordert gefühlt, die Situation einzuschätzen, und befürchtete, Schwierigkeiten zu bekommen.

Schwierigkeiten sind der Begriff, der Pädagogen im Zusammenhang mit Missbrauchsvorwürfen vordringlich in den Kopf zu schießen scheint. Missbrauch kann ein Opfer psychisch vernichten, das Anfassen eines Missbrauchsvorwurfs jedoch kann sogar einen regelrechten Giftregen im Umfeld auslösen. Wer entsprechende Verfahren kennt, weiß, wie umfassend ihr zerstörerisches Potenzial sein kann für Opfer, Zeugen, Kollegen, Familien, nämlich dann, wenn darüber gestritten wird. Da gehört es nicht selten zur Verteidigungstaktik der Täter, Gegenangriffe zu starten und Anzeigen zu erstatten, kombiniert mit eigenen Opferinszenierungen und einem manipulierten Umfeld. So auch in Fällen, wo andere Lehrkräfte als Helfer im Widerstand gegen sexuellen Missbrauch oder sexuelle Nötigung von Schülern durch Pädagogen auftreten. Den Schaden hat dann möglicherweise, neben dem Opfer, auch die hilfsbereite Lehrkraft.

Im schulischen Alltag werden zu viele Unrechtserfahrungen gemacht. Auch von Pädagogen. Nicht nur die anstrengenden Schüler und Eltern, auch Stress mit dem Chef oder Kollegen-Mobbing können selbst den motiviertesten Idealisten zermürben. Wer einmal die Erfahrung mit der brachialen Kampfrhetorik seiner trainierten Schulleitung oder Dienstaufsicht machen musste, einer Kunst, die nicht wirklich auf Fairness-Prinzipien aufbaut, scheut möglicherweise jede weitere Konfrontation. Die persönliche Entscheidung zwischen Kinderschützer oder Kollegenfreund ist da schnell gefällt. Die Schädigungen, die Kinder durch sexuellen Missbrauch erfahren, sind nicht immer körperlicher Natur. Das Ausmaß der psychischen Verletzung kann so schwerwiegend und nachhaltig sein, dass Experten von regelrechtem Seelenmord sprechen. Ein Leben lang haben Menschen dann mit Ängsten, Panikattacken und anderen gravierenden Einschränkungen ihrer persönlichen Entfaltung und Gesundheit zu kämpfen. Opfer haben deutlich bessere Chancen, eine Missbrauchserfahrung gut zu verarbeiten, wenn sie die Möglichkeit haben, sich den Übergriffen schnell zu entziehen und Hilfe zu bekommen. Das Gefühl von Wertschätzung und Schutz vermittelt bereits Gerechtigkeit. Ein von einer Lehrkraft missbrauchtes Schulkind jedoch kommt nicht immer in den Genuss wirkungsvoller Unterstützung. Nicht selten wird es vom System alleingelassen, verstoßen und aussortiert. Die Schulprobleme eines Missbrauchsopfers wie Konzentrationsmangel, Aggressivität und Notenabfall können Eingang in seine Schülerakte und die Unterlagen eines Schulpsychologen finden. War der Täter sein Lehrer, wird man den Hinweis auf die Ursache dort aber vergebens suchen. Der Täter hat Anspruch auf Datenschutz. Auch gegenüber den Kollegen. So kann es durchaus sein, dass der vom Dienst suspendierte Kollege noch zu Kaffee und Kuchen lädt, eine Abschiedsfeier ausrichtet, auf der er davon spricht, aus gesundheitlichen Gründen auszuscheiden und nun erst einmal „das Leben genießen“ zu wollen.

Eine fatale Melange aus Datenschutz, Schulfriedenssicherung und Imagepflege walzt die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs oftmals platt.

2001 unterzeichnete Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention. Die bisherige Bearbeitung von Missbrauchsfällen in Schulen will so gar nicht dazu passen. Ist unser Kinderschutz noch gut genug? Von der zweiten Generation des Kinderschutzes in Deutschland sprachen einst führende Vertreter der 70er-Jahre-Pädagogik. Der Repression hatte man den Kampf angesagt. Demokratisch sollte Erziehung sein, Kind und Pädagoge auf gleicher Augenhöhe. Gemeinsam wollte man sich entwickeln und die Welt verstehen lernen. Doktorspiele waren nicht länger tabu. Das Recht des Nachwuchses auf Sexualität galt es zu verteidigen, auf Unverklemmtheit und Lust.

Immer stärker wird der Gegenwind für Theorien und Praktiken einiger altgedienter, auch prominenter Kinderschützer. Therapieeinrichtungen, die Täter und Opfer zum gemeinsamen Frieden führen möchten, sehen sich in der Kritik. Nicht nur Kriminalisten sprechen bei Übergriffen von Pädokriminalität, nicht von Pädophilie oder Pädosexualität. Die dritte Generation des Kinderschutzes hat sich auf den Weg gemacht.

Die Autorin ist freie Publizistin und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit den Themen Schulgewalt und sexueller Missbrauch. Sie ist Mitautorin des Buches „Wenn Lehrer schlagen. Die verschwiegene Gewalt an unseren Schulen“, erschienen im Droemer-Verlag.

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