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Viele Berliner Kinder haben massive Sprachdefizite.

© dpa

Neuköllner Schulstadträtin: „Kitapflicht darf kein Tabu sein“

Berlins Vorschulkinder haben massive Sprachdefizite. Neuköllns Bildungsstadträtin Franziska Giffey fordert nun Konsequenzen. Sie plädiert für eine Pflicht zum Kita-Besuch.

Die neuen Sprachstandsmessungen belegen, dass Berlins Kitakinder trotz aller Investitionen, Reformen und Fortbildungen keine Fortschritte machen. Wie lässt sich das erklären?

Offenbar verschlechtert sich die soziale Lage der Familien so stark, dass die Anstrengungen nicht ausreichen, um die steigenden Probleme zu kompensieren.

Woran machen Sie das fest?

Ein guter Indikator ist die Quote der Schulkinder, die keine Schulbücher kaufen müssen, weil ihre Eltern staatliche Leistungen beziehen. In Neukölln ist diese Quote in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent gestiegen und liegt jetzt bei über 50 Prozent. Das bedeutet: Wenn es die Kitareformen nicht gegeben hätte, wäre die Lage jetzt wahrscheinlich noch wesentlich schlechter.

Dennoch fragt man sich, warum sich während eines mehrjährigen Kitabesuchs die Sprachdefizite nicht beheben lassen.

Da kommt vieles zusammen. Es fängt schon damit an, dass viele Kinder nicht regelmäßig in die Kita gebracht werden. Oder sie kommen verspätet und werden früh abgeholt. Es fehlt die Verbindlichkeit, und das macht es den Erzieherinnen schwer. Das gilt besonders für Regionen, in denen 50 oder 60 Prozent der Kinder Sprachdefizite haben wie etwa in der Gropiusstadt oder im Reuterkiez.

Franziska Giffey
Franziska Giffey (SPD) ist seit 2010 Schulstadträtin in Neukölln.

© Thilo Rückeis

Plädieren sie für eine Kitapflicht?

Kitapflicht darf kein Tabu sein, denn wir verlieren diese Kinder. Die Differenz zwischen dem Potential dieser Kinder und dem, was sie letztlich erreichen, ist katastrophal groß.

Viele Juristen sind sich darin einig, dass eine Kitapflicht nicht mit dem Grundgesetz und den dort verankerten Elternrechten vereinbar ist.

Das kann man so sehen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es an diesem Punkt irgendwann ein Umdenken gibt, wenn der Leidensdruck noch größer wird.

Solange es keine Kitapflicht gibt, muss man andere Wege suchen, um die Kinder zu fördern. Wo würden Sie ansetzen? Die Schulpflicht noch weiter vorziehen?

Ganz bestimmt nicht. Die Kinder sind schon jetzt häufig zu klein und zu verspielt oder schlafen mittags ein und zu viele müssen die zweite Klasse wiederholen. Anstatt die Kinder mit fünf Jahren einzuschulen, sollte man sie besser in der Kita fördern.

Was ja aber offenbar nicht gelingt, wie die neuen Sprachstandsfeststellungen zeigen.

Man kann in den Kitas bestimmt einiges verbessern. Es gibt in Neukölln zum Beispiel Kitas, die im Jahr vor der Einschulung regelmäßig mit den Kindern in eine Grundschule gehen und dort eine schulische Vorbereitung machen. So etwas müsste man ausbauen. Es ist überhaupt ein Fehler gewesen, die Vorklassen an den Grundschulen abzuschaffen.

Was könnte man denn in den Familien tun?

Es gibt bei vielen Eltern eine Riesendiskrepanz zwischen Wollen und Können. Deshalb muss mehr getan werden, um den Eltern dabei zu helfen, ihre Kinder zu unterstützen. Dafür gibt es schon gute Beispiele wie die speziellen Elternkurse der Volkshochschulen Neukölln und Mitte. Sie verbinden Integrations- und Sprachkurse mit Elternthemen und bieten diese Kurse auch direkt an den Schulen ihrer Kinder an.

Warum fällt es den Eltern so schwer, ihre Kindern zu fördern?

Es gibt allein in Neukölln rund 28 000 funktionale Analphabeten im erwerbsfähigen Alter. Darunter sind Deutschstämmige, aber auch Väter und Mütter, die über den Ehegattennachzug gekommen sind und in ihren Heimatländern kaum die Schule besucht haben. Dieses Problem wird auch nicht gerade rückläufig. Im Gegenteil: Neuerdings kommen viele Analphabeten aus Südosteuropa hinzu.

Berlin hat im Jahr 2007 die Spachlerntagebücher eingeführt. Sie sollten den Erzieherinnen die Möglichkeit geben, die Fortschritte der Kinder festzuhalten, aber auch die Probleme beschreiben. Der Datenschutzbeauftragte verhindert, dass sie an die Grundschulen weitergegeben werden.

Das ist bedauerlich. Ich wünsche mir, dass so schnell wie möglich eine Regelung gefunden wird.

Viele Eltern berichten, dass die Lerntagebücher von den Erzieherinnen kaum genutzt werden und in irgendwelchen Regalen verstauben. Deshalb sei es egal, ob diese Bücher an die Schulen weitergegeben werden.

Wenn die Weitergabe an die Grundschule verbindlich geregelt wäre, könnte ich mir vorstellen, dass die Motivation der Erzieherinnen steigt, mehr Zeit in die Lerntagebücher zu investieren. um den Übergang von der Kita in die Schule zu verbessern.

Die Fragen stellte Susanne Vieth-Entus

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