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Wilfried Seiring war leitender Oberschulrat und ist Direktor beim Humanistischen Verband.

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Position: Die gute Absicht allein reicht nicht!

Warum die inklusive Schule nicht übereilt werden darf. Ein Erfahrungsbericht.

Ein guter Mensch – wer wär’s nicht gern? Als vor 25 Jahren die ersten sogenannten Integrationskinder die Grundschule verließen, standen wir vor der sehr bedrängenden Frage, welche Wege durch die Oberschule führen könnten. Als damals zuständiger Oberschulrat, nicht frei vom Wunsch, auch gut zu sein, änderte ich Vorschriften, veranlasste, dass die Gelder an die richtigen Stellen flossen, warb bei den Eltern nicht behinderter Kinder um Verständnis und gewann mit der Sophie-Scholl-Oberschule in Schöneberg ein Kollegium, das sich – bis heute – verdienstvoll für die Integration einsetzt.

Aus den Erfahrungen des Pilotprojekts: Unerlässlich war die sofortige Senkung der Klassengröße und vor allem eine veränderte Einstellung zum Begriff von und zum Umgang mit Behinderung. Außerdem brauchten diese Klassen zwei Lehrkräfte („Doppelsteckung“) und sie benötigten spezielle Unterrichtsmaterialien. Erfolgreich war der neue Weg dennoch nur, weil einige Lehrer Zusatzqualifikationen besaßen und Mehrbelastung ohne Murren ertrugen. Der Glanz der Anerkennung für pionierhaftes Tun trug mit.

Aber die Probleme kamen schnell: Bei jedem Lehrermangel – wegen Erkrankungen etwa – nahm die Schulleitung den zweiten Lehrer aus der Integrationsklasse, wurden die Förder- und Teilungsstunden gestrichen, und die Last der begrüßten Reform blieb bei den Gutwilligen. So kann aus dem Frühlingswind der Bejahung schnell ein Sturm der Entrüstung werden, und zwar sowohl bei den Eltern, die spezielle Leistungsziele für ihre Kinder im Blick behalten, als auch bei jenen, denen gezielte Förderung für ihr behindertes Kind versprochen wurde.

Das Mädchen damals mit Down-Syndrom war bei der gemeinsamen Erziehung das geringste Problem, viel differenzierter muss beurteilt werden, wenn körperbehinderte, sinnesgeschädigte, lernbehinderte, geistig behinderte, auch verhaltensauffällige, sozial und emotional gestörte Kinder mit denen, die das Abitur anstreben, gemeinsam im Klassenraum sitzen. Hier reichen die üblichen Binnendifferenzierungsmaßnahmen nicht. Nach allen bisher bekannten Untersuchungen nimmt zudem die Zahl der hyperaktiven Kinder massiv zu.

Wer die UN-Konvention zur Inklusion umsetzen will, braucht verlässliche Zahlen über den Prozentsatz behinderter Kinder, über die Dauer der erforderlichen Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte und über ausreichende finanzielle und materielle Ressourcen. Das Vorhaben ist zu wichtig, als dass es wegen fehlender Voraussetzungen und angesichts einer ohnehin schon überlasteten Lehrerschaft nur mangelhaft realisiert werden darf.

Es geht in der UN-Konvention darum, Menschen mit Behinderungen Zugang zum staatlichen Bildungssystem zu geben, nicht um eine hundertprozentige inklusive Beschulung. Zugang haben sie in Deutschland längst. Viele Eltern haben mit Förderschulen und deren Fachkräften, mit kompetenten Diagnosen und individuellen Förderplänen gute Erfahrungen gemacht. Man sollte diese anerkannten und akzeptierten Angebote nicht übereilt über Bord werfen, bevor sie an den übrigen Schulen in vergleichbarer Qualität vorhanden sind.

Wilfried Seiring, Leitender Oberschulrat a. D., war von 1995 bis 1998 Chef des Berliner Landesschulamtes und ist seither Direktor beim Humanistischen Verband. Die Stellungnahme des Inklusionsfachmannes veröffentlichen wir, bevor am Freitag dieser Woche Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Empfehlungen des Inklusionsbeirates vorstellt. Dieser war vor einem Jahr eingesetzt worden, um das Senatskonzept zu überarbeiten.

Wilfried Seiring

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