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Spaß am Lernen? Viele Eltern meinen, dass in Berlin zu früh eingeschult wird.

© dapd

Rückstellungen in Berlin: Zur Schule mit fünf: Widerstand nimmt deutlich zu

Tausende Eltern lassen ihre Kinder länger in der Kita, weil sie sich mit Berlins früher Schulpflicht nicht abfinden wollen. Auch Lehrer und Oppositionspolitiker zweifeln das Konzept der Bildungsverwaltung an.

Immer mehr Eltern wollen sich mit Berlins früher Schulpflicht nicht abfinden. Die Zahl der Kinder, die eigentlich schulpflichtig wären und dennoch auf Antrag der Eltern in der Kita verbleiben sollen, ist nach Informationen des Tagesspiegels abermals drastisch um 380 auf 2640 gestiegen. Damit hat sie erstmals seit der Schulreform die Zehn-Prozent-Marke überschritten. Über die Situation an den freien Schulen machte die Bildungsverwaltung keine Angaben. Deren Fälle müssten noch zu den genannten Zahlen hinzugerechnet werden.

Die meisten Rückstellungen im aktuellen Schuljahr gab es in Pankow, wo 385 Eltern an öffentlichen Schulen mit ihrem Antrag erfolgreich waren. Hier ist die Veränderung besonders groß gegenüber 228 Anträgen im Vorjahr. Nimmt man die Rückstellungen an privaten Schulen hinzu, so kommt Pankow geschätzt auf über 400 Kinder, die noch keine Schultüte bekommen, obwohl sie laut Gesetz schulpflichtig gewesen wären. Die wenigsten Anträge wurden in Charlottenburg-Wilmersdorf und Reinickendorf gezählt (jeweils 159). Ob diese Unterschiede von bezirklichen Besonderheiten herrühren oder in Relation zu der Gesamtschülerzahl im jeweiligen Bezirk stehen, war den Angaben der Senatsverwaltung für Bildung nicht zu entnehmen.

Die Behörde ist ohnehin sparsam mit Auskünften zum Thema „Rückstellungen“. Im neuen Ratgeber mit Tipps für die Einschulung wird die Möglichkeit der Rückstellungen erst auf Seite elf erwähnt und schon in der Überschrift ausdrücklich als „Ausnahme“ deklariert. Weiter ist dort zu lesen, dass Schulaufsicht, Kita und Schularzt in den Entscheidungsprozess einbezogen werden müssen. Das aber schreckt verwaltungsmäßig ungeübte Eltern womöglich erst mal ab.

Ihnen hilft auch nicht weiter, dass Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles (SPD) erst jüngst wieder in der Antwort auf eine Kleine Anfrage des grünen Abgeordneten Özcan Mutlu betonte, Berlin habe eine „flexible Einschulungsregelung“. Denn im Widerspruch zu der beschworenen Flexibilität steht besagter Einschulungsratgeber. Dort werden unter der Überschrift „Zu jung für die Schule?“ ausschließlich Argumente für eine frühe Schulpflicht gesammelt. Außerdem heißt es dort kategorisch: „Die Erfahrung zeigt: Wer früher beginnt, lernt mehr.“ Das aber ist bislang in Bezug auf die frühe Einschulung noch gar nicht belegt. Wie der Tagesspiegel zu Beginn des Schuljahres offenlegte, hatte Berlin noch keinen Wissenschaftler beauftragt, die Folgen der auf 5,5 Jahre vorgezogenen Schulpflicht zu untersuchen. Dies halten sowohl Landeselternausschuss als auch die Grünen für ein Versäumnis. Bekannt ist lediglich, dass tausende Kinder die zweite Klasse wiederholen, weil sie den Stoff nicht beherrschen, den sie für die dritte Klasse brauchen.

Die Bildungsverwaltung bleibt dabei, dass dieses „Verweilen“ in der Schulanfangsphase allemal besser sei, als die Kinder ein Jahr später einzuschulen und sie damit ein Jahr länger in der Kita zu belassen. Viele Eltern und Grundschulen sind da nicht mehr so sicher.

„Es wäre besser, wenn die Kinder etwas älter wären,“ meint etwa die Leiterin der Charlotte-Salomon-Schule in Kreuzberg, Rosi Stetten. „Die Kleinen legen sich nach drei Stunden hin und schlafen erst mal“, beobachtet sie im Schulalltag. Die Grundschulen seien „nicht dafür ausgestattet“, mit diesen sehr kleinen Kindern zu arbeiten. Das tue den Kindern nicht gut. Und das propagierte „Verweilen“ mache ihnen sehr wohl etwas aus, weil sie den Bezug zu ihrer Lerngruppe verlören.

Auch die Erwartung, dass das Jahrgangsübergreifende Lernen (JüL) dieses Problem löst, sieht Stetten nicht erfüllt, obwohl sie in Berlin zu den JüL-Vorreitern gehört und diese Methode nach wie vor anwendet. „JüL ist kein Allheilmittel“, sagt Stetten in Bezug auf die sehr kleinen Kinder.

Auch die CDU ist nicht glücklich über die aktuelle Situation. „Es stellt sich mehr und mehr die Frage, warum die Vorklassen abgeschafft wurden“, findet Hildegard Bentele, bildungspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Sie plädiert dafür, die Folgen der Früheinschulung „genau zu beobachten“, und bedauert, dass es keine wissenschaftliche Untersuchung dieses ehrgeizigen Projektes gegeben hat.

Wie berichtet, ist Berlin das einzige Bundesland, das so früh einschult. Die Mehrheit der 16 Länder schickt nur die Kinder zur Schule, die bereits Ende Juni sechs wurden, einige wenige Länder haben den Stichtag auf den 30. September verschoben, nur Berlin hat den 31. Dezember als Stichtag.

Der Bildungsverwaltung geht das aber offenbar noch nicht weit genug. In genanntem Einschulungsratgeber wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass Kinder auf Antrag sogar noch drei Monate früher eingeschult werden dürfen als in Berlin üblich. Der ausdrückliche Hinweis darauf, dass es sich dabei um eine „Ausnahme“ handelt, fehlt – anders als bei den Rückstellungen.

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