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Ellen Hansen leitete 23 Jahre lang die Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg.

© Mike Wolff

Schulanfang in Berlin: Grundschulrektorin: „Die Schule ist kein KaDeWe“

Eltern sollten Lehrern vertrauen, findet Ellen Hansen. Hier spricht die langjährige Rektorin einer Schöneberger Grundschule über überstürzte Reformen und wissbegierige Kinder.

Frau Hansen, 40 Jahre lang waren Sie im Schuldienst, die letzten 23 Jahre als Leiterin der Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg. Wie fühlt sich Ihr erster freier Schultag nach fast 40 Jahren an?

Ich habe schon eine Mail an den Schulrat geschickt und mit unserer Sekretärin telefoniert – abgeschaltet habe ich noch überhaupt nicht. Ich bin noch voll dabei.

Wenn Sie zurückschauen: Hat sich die Berliner Schule zu ihrem Vorteil verändert?

Die Richtung stimmt. Aber ich hadere mit der Umsetzung. Man verordnet etwas. Und dann sieht man, es geht doch nicht so und dann gibt es Umsteuerungen oder Notbremsungen. Das verbraucht unheimlich Energien – leider!

Und wie haben sich die Schüler in diesen 40 Jahren verändert?

Ich denke, Kinder wollten immer schon lernen, und das gilt heute auch noch. Sie kommen wissbegierig und offen mit ganz viel positiver Einstellung. Das hat sich gar nicht verändert. Sie haben aber größere Schwierigkeiten, Grenzen anderer zu akzeptieren und zu begreifen, dass sie nicht immer alles sofort bekommen. Sie wollen Bedürfnisbefriedigung auf den Punkt und quatschen dazwischen. Und sie akzeptieren schwerer, dass vor dem Erfolg die Anstrengung stehen muss.

Können Kinder mehr oder weniger als früher?

Ich denke, es hat sich verschoben. Das Schreiben per Hand ist heute nicht mehr ganz so wichtig, wie es früher mal war. Sie lernen gut schreiben, aber sie lassen es dann auch wieder, weil es nicht so gelebt wird. Die Rechtschreibung ist ja auch gesamtgesellschaftlich gesehen eher im Verfall. Da sind sie sicher eher schlechter geworden. Aber sie sind viel besser geworden im Allgemeinwissen und im Argumentieren und darin, Fakten zusammenzubringen. Sie können ihre Aufgaben und ihre Lösungswege erklären und darstellen und anderen erklären. Sie sind nicht dümmer geworden. Wir haben den gleichen Rahmenplan wie früher und den erfüllen sie auch.

Im „Spiegel“ wurde kürzlich behauptet, dass die deutschen Grundschüler immer schlechter schreiben können, weil sie nach der Anlautmethode unterrichtet werden. Die Lehrer würden den Kindern zu viel Freiheit bei der Rechtschreibung lassen.

Diese „Spiegel“-Geschichte war einfach nur die Neuauflage einer Geschichte aus dem Jahr 2000. Da wird wieder ein Popanz aufgebaut. Anders als im „Spiegel“ suggeriert wurde, wird an keiner Schule ausschließlich nach der Anlautmethode unterrichtet.

Aber die Eltern sind verunsichert.

Die Eltern sollen ihre Kinder loslassen und den Lehrern ihre Professionalität zutrauen. Sie sind in der Regel gut ausgebildet und haben Kindern über Jahre das Lesen und Schreiben beigebracht. Das Schlimmste ist es, wenn die Eltern einen Keil zwischen Kinder und Lehrer treiben. Sie sollen mit den Lehrern direkt reden.

Manche Eltern erleben aber, dass ihre Kinder noch in der zweiten Klasse völlig wirr schreiben und erhalten dabei von den Lehrern Verbote, die Hausaufgaben ihrer Kinder zu korrigieren. Ist das akzeptabel?

Eltern können natürlich auf einem anderen Blatt die korrekte Schreibweise ergänzen. Dagegen spricht nichts. Aber sie dürfen die Kinder nicht verunsichern, indem sie die Lehrer kritisieren.

Aber wenn ein Lehrer die Methoden nun nicht beherrscht und Fehler macht. Das hängt den Kindern doch jahrelang nach.

Die Schulleiter sehen doch die Ergebnisse – etwa bei den Vera-Vergleichsarbeiten in der 3. Klasse. Da wird spätestens klar, ob es in einer Klasse besonders große Probleme gibt. Das muss dann analysiert werden und der oder die Kollegin sollte hospitieren oder in die Fortbildung. Aber einen Popanz mit der Anlauttabelle aufzubauen, das geht überhaupt nicht.

Was sollen die Eltern im Umgang mit den Lehrern noch beachten?

Sie sollen Fragen stellen, sollen Probleme ansprechen und Zutrauen entwickeln. Und wenn sie Vorstellungen und Wünsche haben, sollen sie es äußern und sich aktiv einsetzen, dass es umgesetzt wird. Also nicht nur Forderungen stellen, sondern auch einen Beitrag leisten, damit diese Schule eine gute Schule für ihr Kind wird. Die Schule ist kein KaDeWe, in dem man alles kaufen kann. Aber Eltern sollten Vertrauen haben.

Was Hansen von Vorschulklassen und dem Jahrgangsübergreifenden Lernen hält

Neuerdings wird erneut die Wiedereinführung der Vorklassen diskutiert. Was halten Sie davon?

Ich habe die Abschaffung der Vorklassen damals sehr bedauert. Aber jetzt ist der Zug abgefahren. Wir haben dafür gar keine Räume mehr. Vor allem aber kann man jetzt nicht schon wieder umsteuern. Dadurch entsteht nur neue Unruhe.

Bedauern Sie die Notbremsung beim Jahrgangsübergreifenden Lernen?

Einerseits: Ja. Andererseits musste reagiert werden, weil es nicht gut lief. Wenn ein Lehrer JüL nicht kann und keine Vorstellung davon hat und letztlich sagt: JüL ist an allem schuld, macht es keinen Sinn.

Was hätte anders laufen müssen?

Mercedes bringt doch auch keinen neuen Motor auf den Markt ohne Schulung. Die Lehrer hätten mehr Unterstützung und Zeit gebraucht. Stattdessen gab es einzelne Moderatoren. Das reicht eben nicht, um alle Kollegen zu erreichen. Es gibt allein für meine Schule 13 Regionalkonferenzen, zu denen wir jeweils eine Kollegin hinschicken sollen, damit die Neuerungen bei uns ankommen. Die Zeit reicht noch nicht einmal, alle 13 im Kollegium berichten zu lassen. Das ist doch Mist!

Also lieber gar keine Reformen?

Wenn man eine Reform macht, muss man sich viele Jahre Zeit nehmen. So wie Hamburg zum Beispiel, das jetzt Frühenglisch einführt, aber nicht überall auf einmal, sondern nach und nach. Das kann ruhig sechs oder acht Jahre dauern. Letztlich ist es übrigens wurscht, ob man JüL oder etwas anderes macht: Hauptsache ist, dass alle Kinder vorankommen. Auf jeden Fall braucht man genug Fortbildungen, wenn man etwas Neues machen will.

Aber die gibt es doch in den Bezirken.

Das reicht aber nicht. Es müsste mehr Verpflichtung für Fortbildungen geben. Auch mal eine Woche in den Ferien! Wenn ein Lehrer auf stur stellt und keine Fortbildungen machen will, dann ist er – anders als ein Mitarbeiter von Mercedes – eben nicht vom Markt weg. Er kann immer so weitermachen. Im Übrigen laufen die regionalen Fortbildungen ins Leere, wenn da 35 Lehrer von 35 Schulen sitzen, die alle an einem anderen Punkt sind und ein anderes Problem haben.

Was ist die Alternative?

Die Schulen brauchen eigene Budgets für Fortbildungen, damit sie punktgenau das einkaufen können, was sie brauchen. Das gab es mal im „Modellprojekt Eigenverantwortliche Schulen“. Nichts ist davon geblieben, nachdem das Projekt ausgelaufen war. Das Budget wurde uns weggenommen mit Hinweis auf die regionalen Fortbildungen in den Bezirken. Da finde ich aber nicht punktgenau das, was ich brauche. Geldverschwendung.

Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin?

Es muss eine bessere Zuarbeit durch das Bezirksamt und die Bildungsverwaltung geben, damit sich die Schulleitung tatsächlich um die pädagogischen und wirtschaftlichen Fragen ihrer Schule kümmern kann. Es kann nicht sein, dass man ständig für etwas kämpfen muss: Lehrer, Hausmeister, Sekretärinnen, Sanierungen, Winterdienste. Und die Bevormundung muss aufhören.

Ellen Hansen stammt von einem Bauernhof bei Flensburg und unterrichtete 15 Jahre an einer Berliner Hauptschule, bevor sie zur Werbellinsee-Schule kam. Mit ihr sprach Susanne Vieth-Entus.

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