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Gitarrenkünstler. Wilfried Ansin (links) und Janko Lauenberger von der Gruppe „Sinti Swing Berlin“ spielen vor Grundschülern in Hohenschönhausen.

© Mike Wolff

Schule in Berlin: Geschichte mit Swing: Zwei Sinti erzählen

Zwei Berliner Sinti musizieren mit Schülern und sprechen mit ihnen über ihre Kultur – und die Verfolgung ihrer Familien.

Es ist warm an diesem Freitagvormittag in der Grundschule am Wilhelmsberg in Alt-Hohenschönhausen. Schüler zweier sechster Klassen von Lehrerin Suzanna Meier drängeln sich in den bunten Lebenskunderaum. An der Wand hängen Plakate: „Fair teilen“, „Vielfalt leben“ und „Hoffnung teilen“ steht darauf. Eine besondere Doppelstunde liegt vor den Grundschülern: Heute sind zwei Musiker der fünfköpfigen Gruppe „Sinti Swing Berlin“ zu Gast. Janko Lauenberger und Wilfried Ansin sind Berliner Sinti. Sie wollen von sich und ihren Vorfahren erzählen – aber auch Swing-Musik machen.

Der Anlass? „Wir haben ’Elses Geschichte’ gelesen“, sagt Meier. Das ist ein Kinderbuch von Michail Krausnick. „Es geht um das achtjährige Mädchen Else, das zu einem Viertel Sinti ist und darum von den Nazis in ein Konzentrationslager gebracht wird“, erzählt Schülerin Santje. „Und ihr Pflegevater hat es geschafft, sie zu befreien“, ergänzt Meier. Sie liest eine Stelle aus dem Buch vor.

Zwei Tage zuvor hatte Meier mit den Schülern das KZ Sachsenhausen besichtigt. „Es war spannend und auch traurig“, sagt die zwölfjährige Emilly. „Wir haben die Räume, die kleinen Betten und die Toiletten gesehen“, erzählt Michelle. „Zu essen haben die Gefangenen verschimmelte Kartoffeln bekommen und hatten dann zusammen nur zehn Minuten Zeit, um auf die Toilette zu gehen!“, die Zwölfjährige schüttelt den Kopf. Lehrerin Suzanna Meier betont, wie interessiert und aufgeweckt die Schüler sind. „Sie hatten viele Fragen und waren berührt, aber nicht in Grund und Boden zerstört. Mit den ganz heftigen Dingen habe ich sie nicht konfrontiert“, sagt sie.

"Bist du Deutscher?"

Suzanna Meier stellt den beiden Musikern Fragen vor den Schülern. „Bist du Deutscher?“, fragt sie. „Ja“, lautet die prompte Antwort von Lauenberger. „Aber auch Sinti?“ – „Ja. Was uns ausmacht ist die eigene Sprache, Romanes“, sagt er. „Die Sinti in Deutschland sind schon seit 700 Jahren hier, meine Familie ist immer in Berlin und sesshaft gewesen“, sagt er. Wie kamen sie zur Musik? „Das ist ein Handwerk des fahrenden Volkes“, sagt Lauenberger. Als Beispiel nennt er Django Reinhardt, den französischen Musiker und Vorreiter des Sinti-Swing und europäischen Jazz im vergangenen Jahrhundert. „Ich wusste schon als kleiner Junge, dass ich Musiker werden möchte“, sagt Lauenberger. Sie spielen das erste Lied. Die Töne der beiden Akustikgitarren flirren durch den Raum, ganz ohne Verstärker erfüllen sie jeden Winkel des Klassenzimmers. Die Kinder wippen mit, Meier schließt die Augen und lächelt. Sie ist mit ganzem Herzen dabei. Alle applaudieren tosend. „Es gibt später auch noch Autogrammkarten!“, ruft Meier und schwenkt die Fotos.

„Sinti und Roma werden immer noch in einem Atemzug genannt und als fahrendes Volk bezeichnet. Ist das denn immer noch so?“, fragt Meier weiter. „Ja, draußen haben wir den Wagen abgestellt…“, sagt Lauenberger und lacht. „Nein, wir sind seit dem Ersten Weltkrieg sesshaft.“ Ob sie sich mit den Roma verbunden fühlen? „Nein, nicht wirklich“, sagt Ansin. „Wir haben mit Indien und Pakistan dieselben Herkunftsländer, wir unterscheiden uns aber kulturell“, sagt Lauenberger. „Bei Bettelnden trennen sich die Sintis aus Scham ab. Es tut uns leid, dass die Roma hier nicht die gleichen Chancen hatten“, sagt er. Sie nehmen ihre Gitarren wieder in die Hand und spielen weiter. „Frau Meier, singen Sie mit?“, ruft ein Schüler. Suzanna Meier lächelt und stellt sich zu den Musikern. Auch sie ist Musikerin, macht hauptsächlich Roma-Musik und französische Chansons. „Und dann bin ich noch seit zehn Jahren glückliche Lebenskundelehrerin“, sagt sie.

"Zigeuner ist ein ekliges Wort"

Meier fragt weiter: „Findest du das Wort ’Zigeuner’ diskriminierend?“ Diesmal antworten die Musiker auf Romanes. „Hä?“, ertönt es von den Schülern. Lauenberger übersetzt: „Das Wort Zigeuner ist ein ekliges Wort. Es kommt von Umherziehender, Räuber. So haben uns die Nazis genannt“, sagt er. „Mir ist wichtig, dass das Wort Zigeuner nicht mehr verwendet wird. Geschichtlich derart vorbelastet ist es dumm, es weiterhin zu verwenden.“ Die nächste Frage. „Wurden sie schon einmal diskriminiert?“ „Bisher nicht“, sagt Ansin. „Nein, nicht wirklich. Und wenn, dann konnte ich es nicht ernst nehmen, weil es von dummen Menschen kam“, sagt Lauenberger.

Die beiden Musiker sind verwandt, Ansin ist Lauenbergers Onkel. Ihre Großeltern lebten zur Zeit der Nationalsozialisten in Deutschland. „Die Großeltern väterlicherseits wurden deportiert und sind im KZ umgekommen“, erzählt Lauenberger. „Im Zweiten Weltkrieg haben wir zwei Drittel der Familie verloren.“ Die Familien hätten vor ihren Kindern allerdings verheimlicht, was ihnen widerfahren ist, um diese zu schützen. „Sie mussten Zwangsarbeit leisten und waren Ärzte-Experimenten ausgesetzt“, sagt Lauenberger. Dass Sinti schlecht behandelt wurden, habe allerdings bereits vor dem Zweiten Weltkrieg angefangen, betont er. Ihnen wurde das Gewerbe, das sie ausübten, nicht anerkannt – und so mussten sie es illegal betreiben.

Ein drittes Stück, die Musiker sind hoch konzentriert und schauen nur auf ihre Handbewegungen und die Gitarren. Die Beine wippen im Takt. Die Schüler sind begeistert. Dann ist Pause, die Schüler strömen durch die Gänge auf den Hof. Emilly wedelt stolz mit ihrer signierten Autogrammkarte. „’Elses Geschichte’ fand ich traurig aber auch spannend“, sagt sie. „Sie war zu einem Viertel Sinti, und wusste davon selbst nichts. Trotzdem haben die Nazis das herausgefunden und sie abgestempelt“, erzählt Emilly. „Und sie hatte auch noch ihre schönsten Kleider an, als sie deportiert wurde. Das war so traurig, als sie die abgeben musste“, sagt sie. „Aber das Traurige war doch vielmehr, als ihr das ’Z’ für Zigeuner und die Nummer tätowiert wurde. Da hat sie die Klamotten doch vergessen!“, ruft die 13-Jährige Ananita vehement. Emilly erzählt davon, dass Else wirklich existiert. Die Geschichte beruht auf den Erlebnissen von Else Schmidt und den Monaten, die sie als Kind in Auschwitz und Ravensbrück erleben musste.

Schon in der Grundschule sensibilisieren

Und wie fanden die Kinder die Swing-Musik? „Die war toll! Ich verstehe nicht, warum diese mal verboten wurde“, sagt Emilly. Auch die elfjährige Janine ist von der Musik begeistert. „Ich bin mit meinen Füßen immer mitgewippt“, sagt sie. Mit der Thematik hätten sie vor ein, zwei Monaten im Lebenskundeunterricht begonnen. Sie sind voll im Thema.

Warum bereits in der Grundschule sensibilisieren? „Ich denke, dass die Kinder in dem Alter einen ganz starken Gerechtigkeitssinn haben“, sagt Suzanna Meier. „Sie sind noch vorurteilsfrei und unvoreingenommen. Ich habe bisher eigentlich nur positive Erlebnisse gehabt.“ Später gehe es mit der Pubertät los, die Schüler seien mit anderen Dingen beschäftigt. Daher gehe Meier ab der vierten Klasse mit den Kindern in das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in Mitte, in der Weidt jüdische Arbeiter vor der Verfolgung schützte. Und in der 6. Klasse besuche sie dann mit ihren Schülern ein Konzentrationslager. Auch Zeitzeugen wie den Schriftsteller Walter Kaufmann und die Holocaust-Überlebende Sara Bialas lädt sie in den Unterricht ein. „Das ist Geschichte zum Anfassen“, sagt Meier.

Die Pause ist vorbei, die Schüler stellen noch eigene Fragen und die Musiker spielen ein letztes Stück. „Zugabe!“, rufen die Schüler und jubeln.

Anna Ehlebracht

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