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Spaß am Lesen. Die Coronakrise stellt Eltern vor die Aufgabe, ihre Kinder in der schulfreien Zeit sinnvoll zu beschäftigen.

© imago/Westend61

Schulpädagoge über Homeschooling: „Man muss jetzt keinen Digital-Hype starten“

Kinder können zu Hause auch analog gut lernen, meint Klaus Zierer. Der Schulpädagoge über Eltern- und Lehrerarbeit.

Von Aleksandra Lebedowicz

Klaus Zierer, 43, ist Professor und Leiter des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Er forscht unter anderem auf dem Gebiet der Unterrichtsentwicklung. 2013 hat er gemeinsam mit Wolfgang Beywl die Metastudie „Visible Learning“ des neuseeländischen Erziehungswissenschaftlers John Hattie übersetzt. Die Veröffentlichung sorgte für großes Aufsehen. Mehr Infos zum Buchinhalt gibt es online auf visiblelearning.de.

Herr Zierer, wegen des Coronavirus müssen bundesweit Millionen Schülerinnen und Schüler zu Hause bleiben – und lernen. Geht das überhaupt ohne Schule?
Wenn man die Zeit zum systematischen Üben nutzt, den Stoff auffrischt, wiederholt und vertieft, dann kann das durchaus funktionieren. Das Neulernen von Inhalten halte ich dagegen für problematisch.

Warum?
Weil die Verantwortung dann zu sehr auf den Eltern lastet. Mit zwei schulpflichtigen Kindern bin ich selbst Betroffener. Als Lehrer habe ich aber die nötigen didaktischen Kenntnisse, um sie zu Hause zu unterrichten. Väter und Mütter, die diesen Hintergrund nicht haben, sind überfordert. Da sind Konflikte in der Familie vorprogrammiert.

Experten warnen nicht nur vor psychischen Belastungen, sondern auch vor wachsender Ungleichheit. Der Berliner Sozialforscher Klaus Hurrelmann sagte kürzlich, Kinder aus bildungsfernen Schichten seien besonders gefährdet.
Es ist eine große Gefahr, dass es zum Auseinanderdriften im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit kommt. Eltern, die einen hohen Bildungsanspruch an ihre Kinder haben, werden darauf achten, dass sie regelmäßig üben und einen strukturierten Tagesablauf haben. In Familien, wo das nicht üblich ist, wird sich auch in den kommenden Wochen nichts tun.

Drohen diese Kinder ganz abzurutschen?
Zu hundert Prozent. Wenn die Schule komplett ausfällt und Eltern kein Interesse zeigen, dann ist keiner mehr da, der Motivation und ein Stück weit Kontrolle mitbringt. Das ist für diese Kinder und Jugendlichen in der Tat dramatisch. Man wird das Problem in der aktuellen Lage aber nur schwer lösen können, weil der Kontakt im Grunde fehlt.

Wie kann man ähnliche Szenarien künftig verhindern?
Wir müssen Eltern stärker in den Bildungsprozess einbeziehen und Elternarbeit grundsätzlich neu denken. Bildungserfolg ist ohne ihren konstruktiven Beitrag nicht möglich. Das konnte man übrigens an der Berliner Rütli-Schule gut beobachten. Eltern müssen die Haltung entwickeln: Ich bin wichtig für den Lernerfolg meiner Kinder. Sich Zeit nehmen, Wertschätzung zeigen, Motivation wecken. Das wird ohne langfristige Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus nicht gelingen, schon gar nicht, wenn der Weg bloß ein digitaler ist.

Digitalisierung gilt derzeit geradezu als Allheilmittel. Zu Unrecht?
Aufgaben, die momentan verteilt werden, stehen meistens in den Schulbüchern, insofern können Kinder in den kommenden Wochen auch wunderbar analog arbeiten. Man muss jetzt keinen großen Digital-Hype starten und die Lernenden mit Videos überhäufen.

Schulpädagoge Klaus Zierer
Schulpädagoge Klaus Zierer

© Zierer/Uni Augsburg

Genau das passiert aber aktuell. Sogar Fernsehsender ändern ihr Angebot und bieten kindgerechte Wissensformate an.
Kinder und Jugendliche werden heutzutage mit audiovisuellen Reizen überflutet. Wenn sie jetzt noch zusätzlich Bildungsfernsehen schauen, kommen sie schnell auf ein Tagespensum von neun Stunden. Wenn die Krise vorbei ist, sollen sie aber wieder sechs Stunden in der Schule sitzen. Für mich ist das nicht der richtige Weg zum Ziel.

Worauf kommt es stattdessen an?
Eines muss klar sein: Auch wenn der Unterricht länger als vier Wochen ausfällt, wird das nicht zum Bildungsnotstand führen. Denn auch in der Schule werden nicht jede Woche außerordentlich große Lernfortschritte gemacht. Manchen Unterricht lässt man teilnahmslos über sich ergehen. Insofern gibt es keinen Grund zur Panik, dass die jetzigen Generationen bildungsmäßig absinken.

Dennoch stellt die Krise das Bildungssystem auf die Probe. Welche Schwachstellen werden sichtbar? Die mangelnde digitale Ausstattung wird aktuell viel beklagt.
Die Technik ist aus meiner Sicht nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, was in den Köpfen der Lernenden passiert. Wenn das jetzt nicht funktioniert, dann vor allem deswegen, weil wir es bisher vernachlässigt haben, Schülerinnen und Schülern Selbständigkeit beizubringen. Gewissenhaft und selbstdiszipliniert zu arbeiten, aus Fehlern zu lernen, sich selbst Herausforderungen zu setzen, darauf sind Kinder heute sicher nicht vorbereitet. Das ist im Übrigen erst ab einem bestimmten Alter überhaupt möglich.

Was genau läuft da aus Ihrer Sicht schief?
Kinder sind auf Bulimie-Lernen getrimmt: viel Wissen möglichst effektiv reinstopfen, dann wieder ausspucken. In den Lehrplänen steckt ungeheuer viel drin. Aber die Sinnfrage, die eigentlich die Kernfrage der Bildung ist, wird gar nicht gestellt: Was mache ich mit meinem Leben und meinen Möglichkeiten? Das wird den Kindern regelrecht ausgetrichtert. Selbstständigkeit ist ein Lernprozess. Man muss Kinder dazu anleiten.

Das führt uns direkt zu den Lehrern. Wie sehen Sie ihre Rolle?
In der aktuellen Situation müssen Lehrpersonen in Teamarbeit überlegen, wie sie den Neustart der Schule hinbekommen und den Lernstoff nachholen. Das kann man durch intensives Unterrichten stemmen – wenn man sich dabei aufs Wesentliche konzentriert. Vielleicht ist das sogar eine Chance, die Lehrpläne endlich zu entrümpeln. Nicht, um die Schule leichter zu machen, aber eben sinnvoller.

Dafür plädieren Sie schon lange. Glauben Sie jetzt, auf offene Ohren zu stoßen?
Da bin ich leider zunächst ein Pessimist. Ich kenne keinen Kultusminister, der den Mut hat, das tatsächlich durchzuziehen. Da fehlt aus meiner Sicht eine klare Vision. Stattdessen wird seit Jahren auf immer denselben Nebenschauplätzen gefochten. Das sind die üblichen Strukturfragen und Oberflächenmerkmale wie Schulform, Klassengröße, Ausstattung. Die sind für den schulischen Lernerfolg aber am unbedeutendsten.

Das sind auch die zentralen Erkenntnisse aus der Hattie-Studie, benannt nach dem neuseeländischen Bildungsforscher John Hattie. Sie haben die Studie 2013 ins Deutsche übersetzt. Die Publikation hat hierzulande hohe Wellen geschlagen.
Die Aufmerksamkeit war damals so groß, weil es in die aktuelle öffentliche Debatte passte. Man diskutierte anhand der Pisa-Studien genau solche Strukturfragen, man pilgerte nach Finnland, um dort den Stein der Weisen zu finden, vergaß dabei aber, dass der eigentliche Kern in der Unterrichtsqualität liegt.

Digitale Angebote für Kinder können den Unterricht kaum ersetzen, wenn der Bezug zum Lehrer fehle, sagt Klaus Zierer.
Digitale Angebote für Kinder können den Unterricht kaum ersetzen, wenn der Bezug zum Lehrer fehle, sagt Klaus Zierer.

© imago/Westend61

Inzwischen sind fast sieben Jahre vergangen. Was hat sich seitdem getan?
Die Hattie-Studie hat sich dramatisch weiterentwickelt. Allein der Datensatz hat sich fast verdoppelt. Aus 800 Meta-Analysen sind 1700 geworden. Mittlerweile gibt es ganze Schulnetzwerke, die versuchen, die Ergebnisse aufzugreifen und umzusetzen, zum Beispiel das Hermann- Lietz-Gymnasium auf Spiekeroog.

Hattie wollte Lernen sichtbar machen. Woran lässt sich das festmachen?

Bildung ist ein Interaktionsgeschehen. Es kommt auf die Lehrer-Schüler-Beziehung an. Hier kann Lernen sichtbar werden. Ein Klassiker ist das Feedback.

Sie haben die App „Feedbackschule“ mitentwickelt, mit der auch Schüler den Unterricht bewerten können.
Feedback hat zunächst nichts mit der Bewertung zu tun. Es geht vielmehr um den Austausch. Wenn man die richtigen Fragen stellt, kann das die Professionalisierung enorm vorantreiben. Wir wissen aus Umfragen, dass Lehrer in der Schule über alles sprechen, aber am wenigsten über den eigenen Unterricht. Dabei geben sie im Laufe ihres Lebens rund 35 000 Unterrichtsstunden. Keine davon ist perfekt, in jeder steckt der Fehler. Wenn ich Kollegen frage, wie sie sie nutzen, kommt als Antwort in der Regel gähnende Leere. Das sind vertane Bildungschancen. Wenn wir in Zukunft erfolgreich sein möchten, dann brauchen wir Lehrpersonen, die über die eigene Haltung reflektieren, Kooperationskultur mitbringen und keine Einzelgänger sind.

Sind private Schulen darin besser?
In gewisser Hinsicht schon. Sie müssen neue Angebote liefern, um sich von den Regelschulen abzuheben, wenn sie bestehen wollen. Viele machen das richtig gut. Im staatlichen System herrscht dagegen häufig eine Verwaltungskultur. Wir bräuchten stattdessen eine echte Veränderungskultur, die sich auf neue gesellschaftliche Begebenheiten einlässt.

Denker Yuval Noah Harari sagte in einem Interview, dass die meisten Bildungssysteme Kinder nicht auf die sich rasant wandelnde Welt vorbereiten. Wir müssten menschliche Identitäten künftig wie Zelte bauen, nicht wie Steinhäuser, forderte er.
Schule muss sich stets weiterentwickeln, wenn sie für eine unorhersehbare Zukunft fit machen will. Wir wissen, dass die Herausforderungen komplexer und interdisziplinäres Denken erfordern werden. An den aktuellen Debatten wird außerdem erkennbar, wie wichtig eine klare Wertebasis ist. Vor allem, wenn wir über Krieg, Flucht und Krisen sprechen, können wir nicht davon ausgehen, dass junge Menschen das irgendwie schon lernen, mit Werten umzugehen. Wir müssen diese Fragen gezielt in der Schule thematisieren. Bildung ist eine der zentralen Grundlagen unserer Demokratie.

Wird die Corona-Epidemie unsere Lehr- und Lernkultur dauerhaft verändern?
Das wäre ein unerwartbares Beiwerk. Eigentlich ist es nicht so schwierig, ein wirksames Bildungssystem auf die Beine zu stellen. Aus einer Krise zu lernen, ist dafür essenziell. Jetzt geht es aber erst mal darum, sie zu bewältigen.

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