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Streit um Pisa: Ideologisch hart umkämpft

Ständig neuer Ärger: Schon wollen manche den Ausstieg aus Pisa. Eine gefährliche Forderung. Wer ein Interesse hat, die Schulstudie in Verruf zu bringen.

Der schon länger währende Streit um Pisa kocht kräftig auf. Als „skandalös“ hat der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, am Montag den Ausschluss der deutschen Pisa-Forscher von allen Vorabinformationen über Pisa durch die OECD bezeichnet. Meidinger sieht in der jetzt bekannt gewordenen Sanktion einen weiteren Versuch des OECD-Bildungskoordinators Andreas Schleicher und des Pisa-Verwaltungsrats, „das eigene Deutungsmonopol administrativ durchzusetzen“. Offenbar wolle Schleicher das deutsche Pisa-Konsortium aus der wertenden Analyse der Daten heraushalten, weil sie seinem Plädoyer für ein integriertes Schulwesen zuwiderliefen. Die auf Schleichers Linie liegenden Vorabmeldungen von Nachrichtenagenturen und Zeitungen bei Pisa 2000 und 2003 hätten die OECD nicht gestört. Die OECD hatte ihren Schritt am Wochenende damit begründet, in Deutschland seien im Jahr 2007 Pisa-Ergebnisse vorab der Presse zugespielt worden.

Tatsächlich gehören die Sanktionen der OECD zur heftig geführten Debatte darüber, wie die Pisa-Ergebnisse interpretiert werden müssen. Gerade eskaliert die Diskussion in der „Zeit“. Die deutschen Pisa-Forscher Manfred Prenzel, Jürgen Baumert und Eckhard Klieme werfen Schleichers Pariser OECD-Sekretariat „Fehler“, „Undiszipliniertheit“ und Intransparenz vor. Die Autoren des Artikels waren ihrerseits vorher an gleicher Stelle von dem eher auf Schleichers Seite stehenden Duisburg-Essener Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm beschuldigt worden, die Studie in Verruf zu bringen. Definitionen und Indikatoren würden bei der Darstellung der Ergebnisse „in verwirrender Weise“ gewechselt, die Repräsentativität und die Interpretation der Daten seien nicht über jeden Zweifel erhaben.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Studie verdächtigt wird, Ergebnisse in nebulöser oder gar unseriöser Weise zu generieren. Die Nachrichtenagentur dpa begleitete das Erscheinen der neuen Studie mit einer Meldung unter der Überschrift „Weltspitze der Schönfärberei“. Die deutschen Pisa-Forscher könnten nur deshalb eine leichte Abnahme der dramatischen Chancenungleichheit im deutschen Bildungswesen feststellen, weil sie in jeder Pisa-Studie andere Messverfahren benutzten. Dies täten sie auf Betreiben der Kultusminister, um „Druck aus dem Kessel der laufenden Schulstrukturdebatte“ zu nehmen, erklärte die GEW.

Den größten Wirbel verursachten jedoch unterschiedliche Meinungen des Pariser OECD-Sekretariats und des deutschen Pisa-Konsortiums über die Ergebnisse in den Naturwissenschaften. Schon bevor die Studie veröffentlicht war, erklärte Andreas Schleicher, Leiter der Abteilung für Bildungsindikatoren der OECD, Deutschland habe sich in den Naturwissenschaften nicht gesteigert. Hingegen erkannten die deutschen Forscher für Deutschland eine „statistisch bedeutsame Entwicklung“.

Das interessierte Publikum im linken Spektrum fühlte sich davon in seinem Verdacht bestätigt, die deutschen Pisa-Forscher könnten im Auftrag der KMK Ergebnisse schönreden oder gar schönrechnen. Konservative Kreise sahen hingegen den letzten Beweis für ihre Meinung erbracht, Andreas Schleicher, aus ihrer Sicht ein linker Betonkopf, gönne den Deutschen keine Erfolge, bevor das Gymnasium nicht abgeschafft sei. Bundesbildungsministerin Schavan sagte, Schleicher schade der OECD, die damalige hessische Schulministerin forderte Schleichers Rücktritt.

Das Gezänk über die Studie ist jedoch nicht nur hässlich. Es ist auch gefährlich. All jene erhalten Nahrung, die Pisa schon länger satthaben. In der Tat wünschen sich immer mehr Politiker, das Pisa-Fass müsste nicht immer wieder aufs Neue aufgemacht werden, berichten mehrere Schulforscher, die ihre Namen nicht in der Zeitung sehen wollen. „Die Politiker neigen zunehmend dazu, weniger wissen zu wollen“, ist zu hören: „Sie fühlen sich getrieben, von den ständig neuen schlechten Schlagzeilen und verärgerten Lehrern.“ Nach dem Streit um die Ergebnisse in den Naturwissenschaften soll mindestens ein Bundesland den sofortigen Ausstieg Deutschlands aus der Pisa-Studie verlangt haben.

Eine besorgniserregende Forderung. Denn die Studie steht zumal in Deutschland für eine große Wende in der Bildungsforschung und der Bildungspolitik: die Wende zur Aufklärung durch empirische Untersuchungen. Spielten Zahlen und Statistiken in der traditionellen Erziehungswissenschaft keine große Rolle, gelten Schülerkompetenzen jetzt als mess- und vergleichbar. Als die Kultusminister 1997 in Konstanz beschlossen, fortan an internationalen Schulvergleichen wie Timss, Pisa oder Iglu teilnehmen zu wollen, brachen sie mit der lange gepflegten Tradition, die großen Schwächen des deutschen Schulwesens zu leugnen oder zu verdrängen.

Pisa ist die schreckliche Gewissheit zu verdanken, dass der Unterricht an einer großen Gruppe sozial Schwacher vorbeigeht und dass Bildungschancen in Deutschland maßgeblich nicht von Leistung, sondern von der sozialen Herkunft abhängig sind. Seit Pisa stehen Schüler allerdings auch unter neuem Leistungsdruck, fühlen Lehrer sich von Bildungsstandards und „Testitis“ belastet, bricht über die deutschen Kultusminister bei jeder neuen Schulstudie ein Gewitter von Eltern, Lehrern, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Medien herein.

Beim Blick in den Pisa-Spiegel müssen die Deutschen viel ertragen. An dem Eindruck, es handle sich nur um einen Zerrspiegel, könnten bestimmte Kreise durchaus interessiert sein: All jene, die sich von den unliebsamen Wahrheiten der Studie seit langem belästigt fühlen, könnten unter Verweis darauf auf ihr Recht pochen, lieber wieder wegzusehen. Ungereimtheiten bei Pisa geben „all denen, die bei der Konzipierung von Bildungspolitik lieber auf hergebrachte Überzeugungen als auf belastbares Wissen setzen, willkommene Argumente dafür, den gerade eingeschlagenen Weg evidenzbasierter Politik wieder zu verlassen“, sorgt sich denn auch zu Recht Klaus Klemm in der „Zeit“. Nicht auf Beweise würde sich die Politik dann stützen, sondern wie früher auf ihren Bauch.

Klemms Belege für die von ihm kritisierten Ungereimtheiten sind indes nicht überzeugend. Manche lassen sich schon durch einen schnellen Blick in die Studie entkräften, auf andere kann das deutsche Pisa-Konsortium plausible Antworten geben – auch im Streit mit dem Pariser Bildungskoordinator Schleicher (siehe Artikel unten). Während Klemm vorgibt, sich Sorgen um das Ansehen der Studie zu machen, rückt er sie so selbst ohne solide Argumente ins Zwielicht und provoziert neue Aufregung – vielleicht aus der im linken Spektrum verbreiteten Sorge, der deutsche Pisa-Bericht könne die gravierenden Probleme des Schulsystems verharmlosen. Denn am meisten bezweifelt Klemm Aussagen in der Studie, wonach es auf bestimmten Feldern leichte Verbesserungen gibt.

Die Schule als Keimzelle der Gesellschaft ist ein in Deutschland ideologisch besonders hart umkämpftes Feld. Nach den erschöpfenden Gesamtschuldebatten der siebziger Jahre hatten sich die Kombattanten in ihre Gräben zurückgezogen. Mit Pisa sind sie aufs Schlachtfeld zurückgekehrt. Die Konservativen sehen sich von der Studie in ihrem Widerstand gegen die Gesamtschule bestätigt, die Linken in ihrem Kampf dafür ermutigt.

Möglicherweise wächst die Neigung zur selektiven Wahrnehmung unter den Politikern sogar. So alarmiert es Wissenschaftler, wenn die Kultusminister zukünftige Bildungsstudien nur noch als dünne Heftchen veröffentlichen wollen. Tiefere Einblicke mit wenig willkommenen Ergebnissen würden die Forscher dann nur noch in ihren Fachforen diskutieren, unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Manche Professoren sehen auch die Unabhängigkeit der Forschung in Gefahr. Zu „Hofberichterstattung“ werde es führen, dass Deutschland nach diesem Jahr keine Pisa-Bundesländervergleiche mehr anstellen will, sagt einer. Wenn die Länder fortan lieber mit eigenen Tests überprüfen wollen, ob die selbst definierten Bildungsstandards eingehalten werden, wird man nicht mehr erfahren, wie Bremens oder Bayerns Schüler gemessen an internationalen Maßstäben dastehen.

Mit Argwohn betrachtet ein Professor, der ebenfalls nicht namentlich genannt werden will, deshalb auch Bestrebungen, die nationale Auswertung der Pisa-Studie in Zukunft ebenfalls dem länderfinanzierten Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin zu übertragen. Wenn der Vertrag des jetzigen Leiters Olaf Köller in zwei Jahren ausläuft, könnte an die Stelle des von den Ministern unabhängigen Professors ein Geschäftsführer treten. Dieser müsste sich den Wünschen der Politiker dann offen zeigen, so die Befürchtung.

Im schlimmsten Fall würde die empirische Bildungsforschung dann nicht mehr der rücksichtslosen Selbsterkenntnis dienen, sondern diese nur noch vortäuschen. Deutschland fiele zurück in den Dämmerzustand vor der Aufklärung durch Pisa. Jene, die sich nach den alten heilen Fantasiewelten zurücksehnen, hören alle Zweifel an der Aussagekraft von Pisa gerne – ob diese gut begründet sind oder nicht.

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