zum Hauptinhalt
Wovon diese Frau träumt, ist nicht bekannt. Hoffentlich kein Schulalbtraum.

© ddp

Unruhige Nächte: Tagesspiegel-Redakteure erzählen von ihrem Albtraum Schule

Das Abitur und die Schulzeit verfolgen selbst Erwachsene bis in den Schlaf. Sechs Tagesspiegel-Autoren berichten aus der REM-Phase.

LEBENSZUGANGSBERECHTIGUNG

Verena Hasel darf nur mit Abi ins Freibad

Es gibt Nächte in meinem Leben, an deren Ende ich völlig erschöpft aufwache, mit der dumpfen Ahnung, dass mir Schreckliches bevorsteht. Dann hatte ich meist wieder meinen Abitraum.

Obwohl er Variationen unterliegt, geht es im Kern immer um dasselbe: Ich will irgendwohin, muss aber erst nachweisen, dass ich auch befugt bin, dort zu sein – und dafür will man mein Abizeugnis sehen. Manchmal sitze ich in einem Vorstellungsgespräch für einen Job, und da ist die Frage nach dem Schulabschluss ja noch realistisch. Häufiger sind es aber einigermaßen aberwitzige Situationen. Einmal träumte ich, dass ich in ein Flugzeug einsteigen will und am Gate nach meinem Zeugnis gefragt werde. Und neulich stand ich im Traum am Eingang zu einem Freibad und sollte auch da einen Nachweis vorlegen. Ich durchsuchte meine Taschen, fand nichts außer Handtüchern, die Frau in der Schlange hinter mir wurde ungeduldig, der Bademeister streng. Ob ich denn überhaupt Abitur hätte? Er habe da ja anderes gehört.

Und so ist das in diesem Albtraum immer. Die Menschen, die mir begegnen, sind vor mir gewarnt worden, wahrscheinlich weiß sogar Interpol Bescheid: Ich habe nie Abitur gemacht, ich bin eine Hochstaplerin, und von nun an darf ich nicht mehr arbeiten, fliegen oder schwimmen, denn das Abitur ist in diesen Träumen nicht nur eine Hochschul- sondern eine Lebenszugangsberechtigung. Und das Merkwürdige ist, dass mein Traum-Ich immer selbst ganz erschüttert ist, bis dahin fest daran glaubte, dazuzu- gehören und nun erfährt, dass es nur eine Mogelpackung ist.

Sigrid Kneist fühlt sich als Hochstaplerin.

ZU VIEL IN PHYSIK GEFEHLT

Sigrid Kneist fühlt sich als Hochstaplerin

Der Abi-Albtraum begann mit jahrelanger Verspätung. Auslöser war Mitte der achtziger Jahre eine fürchterliche Examensprüfung, in der ich eine Stunde lang inquisitorische Fragen über Initiationsliteratur oder pittoreske amerikanische Romane beantworten sollte. Dabei kannte ich die Werke nur aus einer Zusammenfassung in einem Literaturlexikon. Das Ergebnis war dann zwar nicht so schlecht und reichte auch zur Magistra. Eine Woche später aber wachte ich schweißgebadet auf, weil ich im Schlaf die Zulassung zum Abitur nicht geschafft hatte. Ich hatte zu viele Stunden in Physik gefehlt. Dazu muss man zweierlei wissen: Physik zählte anders als Mathematik nicht unbedingt zu meinen Lieblingsfächern. Außerdem war es bei meinen Schulfreundinnen (wir waren eine Mädchenschule) geradezu üblich, penibel auszurechnen, wie viele Stunden man in einem Fach - auch unentschuldigt - fehlen konnte, so dass es noch angerechnet werden würde. 25 Prozent Fehlzeiten galten als akzeptabel.

Der Traum kehrte fast identisch jahrelang immer wieder. Irgendwann wachte ich völlig verstört in der Nacht auf - der Traum war aber nicht mehr derselbe: Jetzt hatte ich plötzlich keinen Universitätsabschluss mehr, weil etwas schiefgelaufen war. Ich fühlte mich auf einmal als Hochstaplerin. Zu der Zeit war meine Tochter gerade in die Schule gekommen. Auch dieser Traum verfolgt mich seither, allerdings mit nachlassender Tendenz. Im kommenden Jahr macht meine Tochter Abitur. Mal schauen, welcher Horror mich dann heimsucht.

Nana Heymann verschlägt es die Sprache.

OHNE WORTE

Nana Heymann verschlägt es die Sprache

Russischunterricht hatte ich seit der dritten Klasse, und im Gegensatz zu anderen Mitschülern besuchte ich ihn nicht widerwillig, sondern gern. Wirklich. Die für deutsche Ohren lustig klingenden Vokabeln prägten sich mir besser ein als komplizierte Mathe-Formeln. Wortschatz, Grammatik und Aussprache verbesserte ich zudem während eines vierjährigen Auslandsaufenthaltes meiner Familie in Moskau. Dank russischer Freunde beherrschte ich das rollende R bald perfekt, was sich später, wieder daheim in Berlin, in guten Noten im Leistungskurs niederschlug. Obwohl es meiner Natur widerstrebt, darf ich mit einigem Stolz behaupten, eine der besten Russischsprecher meines Jahrgangs gewesen zu sein. Kurzum: Für die schriftliche Abi-Prüfung fühlte ich mich gewappnet. Pauken? Nicht nötig. Damit sollten sich die anderen die Freizeit versauen. Ich hingegen sah mich die Aufgaben in der Hälfte der Zeit lösen und mit einem guten Gefühl aus dem Klassenzimmer spazieren. Doch dann kam die Nacht vor der Prüfung. Und mit ihr der Traum, am nächsten Morgen keinen einzigen Satz zustande zu bekommen. So, als wäre der über Jahre angehäufte Vorrat an Wörtern aufgebraucht. Schwachsinn, logisch – in der Prüfung ging alles glatt. Doch den Traum, morgens ohne Worte dazustehen, nichts über die Lippen, geschweige denn zu Papier zu bringen, habe ich heute noch manchmal. Erst gestern wieder. Das Aufschreiben dieser Anekdote hat zum Glück trotzdem geklappt.

Sebastian Leber wird verfolgt.

LEHRERIN DES GRAUENS

Sebastian Leber wird verfolgt

Sie heißt Cornelia E. Sehr gerne würde ich ihren Nachnamen komplett ausschreiben, aber das deutsche Presserecht gesteht auch solchen Menschen Recht auf Privatsphäre zu, die große Schuld auf sich geladen haben. Also bloß Cornelia E. Sie war meine Mathelehrerin – und hat mich um eine wohlverdiente Eins gebracht. Ich bekam damals nicht viele Einsen in Klassenarbeiten, in Mathe schon gar nicht. Cornelia E. hat mich dreist bestohlen. Bereits bei der Heftrückgabe merkte ich, dass etwas nicht stimmte: Auf einer ganzen Doppelseite fehlten die roten Häkchen und Anmerkungen, die Lehrer sonst beim Korrigieren hinzukritzeln pflegen. Cornelia E. hatte die Seiten schlicht überblättert und mir so wertvolle Punkte verwehrt. Ich ging zu ihr, Cornelia E. sagte, ich solle morgen wiederkommen. Am nächsten Tag meinte sie, ich hätte am Vortag kommen müssen. Als ich protestierte, änderte Cornelia E. ihre Verteidigungsstrategie: Sollte sie mir die zusätzlichen Punkte tatsächlich anrechnen müssen, werde sie mir diese gleich wieder abziehen, als Strafe für meine krakelige Handschrift. Ich weiß nicht, ob Cornelia E. zu starrsinnig, zu faul oder schlicht zu bösartig war. Ich weiß nur, dass mir Unrecht geschah.

Zwei Jahrzehnte ist das nun her, und Cornelia E. besucht mich immer noch in meinen Träumen. Mal verwehrt sie mir Schulnoten, mal den Studienabschluss, mal den Führerschein oder die Festanstellung bei der Zeitung. Einmal erklärte sie meinen Mietvertrag für ungültig. Ich wünschte, ich könnte ihr verzeihen und sie endlich vergessen, denn ich hatte auch nette und anständige Lehrer, von denen würde ich lieber träumen. Manchmal denke ich, vielleicht muss ich diese Frau noch einmal im wahren Leben treffen, um mein Trauma zu verarbeiten. Frau E., falls Sie das hier lesen: Ihre Handschrift war auch krakelig.

Saskia Weneit holt das Abi heimlich nach.

ROLLTREPPE AUFWÄRTS

Saskia Weneit holt das Abi heimlich nach

Ich stehe auf einer Rolltreppe und fahre hoch ins Klassenzimmer. Seit wann gibt es hier Rolltreppen? Ein bisschen wundert mich das schon. Und warum gehe ich wieder zur Schule? Habe ich mein Abitur nicht schon längst? Und ein abgeschlossenes Studium? Moment mal, ich bin 31 Jahre alt!

Ich bin nervös. Ich glaube, mein Abitur ist gar nicht gültig und deswegen sitze ich jetzt wieder in meiner alten Schule. Ich hole das nun nach, heimlich. Wissen darf das keiner.

Meine Schule sieht noch aus wie vor zwölf Jahren, rund und zweistöckig. Nur die Rolltreppen sind neu. Noch viel merkwürdiger finde ich, dass irgendetwas schiefgelaufen sein muss mit meinem Schulabschluss.

Unvorbereitet bin ich auch, völlig. Ich weiß noch nicht mal, in welchem Fach ich gerade sitze. Hausaufgaben? Habe ich nicht. Könnte ich wenigstens mein Wissen, meine Lebenserfahrung nutzen, dann wäre das hier sogar lustig. Aber nein, ich bin statt dessen in diesem Irrtum gefangen.

Wir sind zu zehnt in einem kleinen Klassenzimmer, draußen scheint die Sonne und die Bäume wehen im Wind. Wie früher, der Blick. Eben, ich war schon mal hier, hab das alles bereits abgeschlossen! Ich bin erwachsen, verdammt!

Ich mache das jetzt schon länger, Mathe, Deutsch, Geschichte. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt im Unterricht sitzen darf. Darf man das Abi zweimal machen? Plötzlich steht irgendetwas an, eine Prüfung oder ein Referat, ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich eingeplant und schon viel zu spät dran bin. Panik. Ich laufe los, plötzlich bin ich im Wald. Wo ist die Schule? Und wo kommen die Berge her?

Susanne Vieth-Entus fühlt mit ihrer Mutter.

BIS INS HOHE ALTER

Susanne Vieth-Entus fühlt mit ihrer Mutter

Obwohl ich beruflich und privat ständig mit dem Thema Schule zu tun habe, erinnere ich mich an keinen einzigen Schul-Albtraum – ganz im Gegensatz zu meiner Mutter Dorothea. Jahrzehntelang verfolgte sie in ihre Träume die Angst, im Abitur zu versagen. Sie war zwar eine gute Schülerin, aber ungeheuer benachteiligt, weil sie kaum hörte: Sie hatte durch Scharlach ihre Trommelfelle verloren, so dass sie darauf angewiesen war, den Lehrern von den Lippen abzulesen.

Sobald sie sich runterbeugte, um etwas zu notieren, verpasste sie, was gesagt wurde. Erschwerend kam hinzu, dass während des Krieges viel Unterricht ausfiel, und es nach Kriegsende erst mal kaum Schulbücher gab, in denen meine Mutter den Stoff hätte nachlesen können. Zwar gelang es ihr mit viel Fleiß, 1950 ein gutes Abitur abzulegen, aber die Angst davor war so groß gewesen, dass sie sich bis ins hohe Alter in den Träumen zurückmeldete.

Zur Startseite