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Viele Magersüchtige kontrollieren ständig ihr Gewicht.

© Jens Schierenbeck/dpa

Zwanghaftes Hungern: Magersucht, die stille Krankheit

Magersüchtige werden immer jünger und zahlreicher. Schon Grundschülerinnen machen Diäten. Für Lehrer und Eltern ist es oft schwer zu helfen. Eine Mutter berichtet.

Laura wollte nur noch dünn sein. Nichts zählte mehr – außer das Hungern. Vielleicht wollte sie sogar verschwinden, sich allmählich weghungern. „Für mich sah es so aus, als wollte sie nicht mehr leben“, sagt Lauras Mutter. Mit elf wurde Laura das erste Mal zwangsernährt. „Sie war so schwach, sie aß ja nicht mehr. Sie lag tagelang im Bett und hatte auch noch das Trinken eingestellt“, sagt ihre Mutter. Da war das Hungern zu einer Sucht geworden, zur Magersucht. Ihre Eltern brachten sie in die Klinik, danach kam sie das erste Mal in die Psychiatrie.

Laura, die in Berlin aufgewachsen ist und hier zur Schule geht, heißt eigentlich anders, will ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen. Auch nicht den ihrer Schule. Sie ist trotzdem einverstanden, dass ihre Mutter ihre Geschichte erzählt. Denn sie ist kein Einzelfall, Magersucht beginnt immer früher und immer häufiger bei Mädchen – auch bei Jungen. „Es ist ein Riesenthema an den Berliner Schulen“, sagt Martina Hartmann von der Beratungsstelle „Dick und Dünn e.V.“. Die Zahl der Betroffenen steige, viele Lehrer suchten Hilfe beim Umgang mit magersüchtigen Schülern. Gerade an Gymnasien gebe es viele Fälle, sagt Hartmann.

Deutschlandweit geht man von 100 000 Betroffenen aus. Martina Hartmann hält die Zahl aber für veraltet, denn es wurden nur Magersüchtige zwischen 15 Jahren bis Mitte 30 gezählt. Die Dunkelziffer sei wesentlich höher, glaubt sie. Schon Neunjährige machten heutzutage Diätwettbewerbe. In Brandenburg leidet nach Erkenntnissen des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (MBJS) jede dritte Schülerin an Frühformen von Essstörungen. In einem Bericht des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) heißt es: „Fast 50 Prozent der Mädchen zwischen elf und 13 Jahren hatten bereits eine Diät gemacht. Etwa 40 Prozent der normalgewichtigen und der untergewichtigen Mädchen zwischen 11 und 19 Jahren fühlten sich zu dick.“ Zwar seien im Suchtbereich andere Problematiken quantitativ stärker ausgeprägt als Magersucht, sagt Heinz Kaufmann, Lehrer und Koordinator für Suchtprophylaxe in der Berliner Schule. „Aber während Rauchen, Kiffen und Alkohol zurückgingen unter Jugendlichen, nehmen Onlinesucht und Essstörungen zu und sind stärker ausgeprägt als bei Erwachsenen.“

Viele Faktoren können zu einer Magersucht führen. Es geht um Kontrolle und Selbstbestimmung – Essstörungen beginnen im Kopf. Die ständige Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führt zu Diätversuchen oder eingeschränktem Essen, irgendwann kreisen die Gedanken nur noch ums Essen und der Körper wird zum Feind. Das Hungern, die Kontrolle über den Körper, werden zur Sucht.

So klinkte sich auch bei Laura die Magersucht ein. Zunächst wollte sie für ihren Leistungssport abnehmen, um schneller und besser zu sein. Vor der Magersucht war sie leicht übergewichtig, eher kräftig, aber sportlich und sehr leistungsorientiert. Sie war gut, so gut sogar, dass sie von der Kinder- in die Jugendgruppe kam, obwohl sie eigentlich noch ein paar Jahre zu jung war. Der Ton dort war rauer, sie wollte mithalten. Es war ein Aspekt von vielen, aber man weiß inzwischen, dass Leistungssport ein Verstärker sein kann, man spricht von sportlicher Anorexie. „Laura hat sehr viel trainiert und dann einfach das Essen eingestellt“, sagt die Mutter. Jeden Tag mussten es eine Liegestütze mehr sein und ein paar Kalorien weniger.

Magersüchtige funktionieren super - eine gewisse Zeit lang

Die Mutter dachte damals, die Gewichtsabnahme hätte mit der Pubertät und dem täglichen Training zu tun. Sie glaubte, dass sich das Übergewicht nun von allein zurechtruckelt. Weder Lauras Eltern noch ihr Bruder haben eine Gefahr bemerkt. Die Magersucht war noch nicht sichtbar und Laura hatte das Nichtessen gut versteckt. „Suchtentwicklung und psychische Störungen sind gerade in der Anfangszeit schwer wahrnehmbar“, sagt Heinz Kaufmann, der seit 38 Jahren als Lehrer tätig ist. Trotzdem kann die Mutter es immer noch schwer verwinden, dass sie es nicht bemerkt hat. Doch sie hat viel gelernt, Eltern sind stark beteiligt in der Therapie von Magersüchtigen – ohne sie heilen die Kinder nicht. Heute weiß sie: „Magersüchtige funktionieren super, solange sie körperlich können, sie ziehen ihren Selbstrespekt daraus.“

Darum ist es auch für Lehrer schwierig, die Magersucht zu bemerken. „Es sind meist die stillen, leistungsstarken Mädchen, die laufend Einsen schreiben, aber mit 40 Kilo in die Klasse kommen“, sagt Suchttherapeutin Hartmann. Lauras Lehrer wussten von ihrer Krankheit, die Eltern legten es offen: Bei ihrem ersten stationären Aufenthalt war Laura im zweiten Halbjahr der sechsten Klasse in der Grundschule und stand vor dem Wechsel aufs Gymnasium. Ihre Eltern informierten die neuen Lehrer. Dort kannte man das Thema schon, an dem Gymnasium sind sehr viele Mädchen von der Magersucht betroffen.

An jeder Oberschule gibt es eine ausgebildete Lehrkraft, sogenannte Kontaktlehrer für Suchtprophylaxe. „Um Tendenzen wie eine beginnende Magersucht zu erkennen, braucht man guten Kontakt und Vertrauen zu Schülern über den Unterricht hinaus“, sagt Kaufmann. Es brauche offene Augen und Ohren, Lehrer müssten aktiv werden, etwa in Pausen Gespräche mit den Schülern suchen.

Geschulte Fachleute, wie etwa die Kontaktlehrer, sollten bei eventuellen Unsicherheiten beratend hinzugezogen werden, sagt Kaufmann. Auch Martina Hartmann hebt hervor, wie wichtig es sei, dass Lehrer auffällige Schüler ansprechen. Als Außenstehender könne man oft hilfreicher sein als die Eltern, die schon alles gesagt haben. Die Lehrer sollten beobachten und den Betroffenen rückmelden, dass sie sich Sorgen machen.

Auch das mediale Umfeld spiele eine Rolle, meint Suchttherapeutin Hartmann. Sendungen wie Heidi Klums „Germany’s Next Topmodel“ zum Beispiel. Vor wenigen Tagen wurde die 17-jährige Luisa als Gewinnerin gekürt: sehr dünn, hübsch, von den Medien wird sie für ihren Look bejubelt. Und in den Jugendzentren üben kleine Mädchen den Catwalk, beobachtet Hartmann. Die gefährliche Botschaft: Mädchen müssen dünn sein.

Das war Laura auch irgendwann, sie hatte rund 30 Kilo abgenommen. Zwischen ihrem elften und 15. Lebensjahr war sie dreimal in der Psychiatrie. Regelrecht phobisch sei sie gewesen, was Essen angeht, sogar der Geruch war schlimm für sie. Sie hat gelogen, um nicht essen zu müssen, verbal um sich geschlagen, Essen heimlich verschwinden lassen. Mittlerweile ist sie 16 Jahre alt und gilt als gesund. Darum werden die Eltern Lauras neuen Lehrern nichts von der magersüchtigen Vergangenheit erzählen. Bald wechselt sie auf eine andere Schule. Sie habe es nicht geglaubt, aber heute könne sie ihrer Tochter wieder vertrauen, sagt die Mutter.

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