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Fürs Leben lernen. Der Schulraum im sonnigen Souterrain der Steglitzer Villa.

© Sebastian Dudey

Schulschwänzer, Verweigerer, Hyperaktive: Wie Jugendliche in Berlin lernen, wieder zu lernen

In einer Steglitzer Villa soll "Unbeschulbaren" beigebracht werden, konzentriert an etwas zu arbeiten. In diesem Alltag neben dem Alltag ist schon Anwesenheit ein Erfolg - und ein landendes Flugzeug kann alle Pläne zunichte machen.

Montage sind die Hölle. Montage müsste man abschaffen. Die gehen gar nicht. Montage, damit das gleich mal klar ist, sind der größte Dreck. Was soll das überhaupt?

An einem Montag in einem Keller in Steglitz blinzeln vier Jugendliche in die Realität einer neuen Woche. Gewöhnen sich noch daran. Das Wochenende hat sie gerade erst ausgespuckt, ihnen, wie mit Edding, dunkle Ränder um die Augen gezeichnet. Hat ihnen den Elan aus den Gliedern gedrückt. Sie hängen dort, schlaff, kaputt. Gähnende Müdigkeit.

Maruan, der feiern war, sich aber kaum erinnern kann. Die vergangenen 48 Stunden sind ein Video auf seinem Handy. 1 Minute 30 Sekunden. Wodkaflaschen auf einem Tisch vor zuckenden Disco-Lichtern. Grey Goose, Belvedere, halbe Meter hoch. Verflüssigtes Geld. Geil, oder?

Maruan, 16 Jahre alt, geht seit November 2011 nicht mehr zur Schule.

Sandra, die sich und ihre Haare im Display ihres iPhones richtet, ihr Make-up prüft, das den Schleier auf ihrem Blick nicht kaschieren kann. Will dabei, bitte schön, nicht gestört werden. Verzieht die Lippen. Duckface. Geil, oder?

Sandra, 16 Jahre alt, geht seit April 2013 nicht mehr zur Schule.

Julien, der auf Absturz unterwegs war. Jeden Abend. Am ersten konnte er nicht sprechen, am zweiten nicht laufen, am dritten hat er gekotzt. Geil, oder?

Julien, 15 Jahre alt, geht seit März 2013 nicht mehr zur Schule.

Und Nihat, der Neue, der kaum spricht. Was er am Wochenende gemacht hat, braucht niemand zu wissen.

Nihat, 15 Jahre alt, geht seit ein paar Monaten nicht mehr zur Schule.

Wohin jetzt? 1371 Schüler haben 2013 die Schule ohne Abschluss abgebrochen, das sind 4,9 Prozent der Abgänger in diesem Jahr.
Wohin jetzt? 1371 Schüler haben 2013 die Schule ohne Abschluss abgebrochen, das sind 4,9 Prozent der Abgänger in diesem Jahr.

© Sebastian Dudey

Er trägt, draußen Frühsommerhitze, eine Winterjacke mit Fellkapuze, eine Basecap der San José Sharks und einen alten Eastpak-Rucksack, der flach an seinem Rücken klebt. Nihat setzt sich. Frühstück im Keller. Und sagt: nichts. Schaut auf die Brötchen, die Wurst- und Käsepakete, und isst: nichts. Er sitzt da, den Körper zurückgelehnt, die Lider halb geschlossen. Und wartet, dass die Zeit vergeht. Zählt die Minuten runter, bis er aufstehen und gehen kann. Die Uhr tickt. Langsam. Die Zeit läuft. Nihat will einen Abschluss machen. Nihat bewegt sich nicht. Die Zeit läuft. Gegen ihn.

Er, wie die anderen auch, muss hier sein. Hat Auflagen. Vom Jugendamt. Das hier, dieser Keller, ist seine vielleicht letzte Chance.

„Wir müssen immer sehen, welche Perspektiven wir ihnen bieten können. Ziel aber ist es, dass sie irgendwann hoffentlich zu glücklichen Steuerzahlern werden.“ (Rouven Reschop, Koordinator ATP)

Montage sind immer anders, sagt Guido. Der einzige Erwachsene in diesem Keller, der Einzige mit echtem Namen in dieser Geschichte. Er, der Sozialarbeiter, sitzt dort und versucht, seinen Jugendlichen das Wochenende auszutreiben. Montage sind Nichttage. Montage sind Inventurtage. Schäfchenzähltage. Wer ist da, wer nicht und warum. Er zählt. Null bis sieben Jugendliche, sagt Guido, an einem Montag ist alles möglich. Dann ruft er die Betreuer an, die Wohngruppen oder die Eltern. Fragt: Wo ist Ihr Sohn, Ihre Tochter?

Guido trinkt Kaffee. Guido steht in der Küche im Keller, Souterrain, die Decke so niedrig. Den Himmel sieht man hier selten.

Er steht dort und fragt: Könntet ihr? Würdet ihr? Wir sollten heute. Am Montag muss der Keller geputzt werden. Guido, unter der niedrigen Decke, rennt gegen die Wand.

Nein.
Ich kann nicht.
Ich will nicht.
Verpiss dich.
Das kann ich nicht.
Mach das doch selber.
Hau ab.

Guido sagt: Heute ist ein guter Tag. Es geht noch viel schlimmer.

Die Fächer: Pünktlichkeit, in einem Raum sitzen, ein Gespräch führen

Stillleben mit Maruans Basecap ("Young Money Cash Money Billionaires") und Sandras Handtasche.
Stillleben mit Maruans Basecap ("Young Money Cash Money Billionaires") und Sandras Handtasche.

© Sebastian Dudey

„Man muss ihre Lebenswelt begreifen und akzeptieren. Sie halten das, was sie machen und wie sie es machen, ja für sehr normal.“ (Rouven Reschop, Koordinator ATP)

9.15 Uhr. In den Schulen in der Nähe läuft gerade die zweite Stunde. Und auch im Keller in Steglitz hat der Unterricht bereits begonnen. Nur die Fächer hier sind andere: Pünktlichkeit, miteinander in einem Raum sitzen, ohne eine Schlägerei anzufangen, es fünf Minuten ohne Handy aushalten, ein Gespräch führen.

In diesem Keller in Steglitz, der der Keller einer Stadtvilla ist, wie man sie in dieser Gegend häufiger findet, werden Lebenswege begradigt. Hier hat das Arbeitstrainingsprogramm, kurz ATP, seine Räume. Ein Projekt des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes. 1983 gegründet, um jenen zu helfen, die aus der Schule und damit auch aus dem System gefallen sind.

Niedrigschwelliges Angebot für schuldistanzierte Jugendliche, heißt das dann in der Fachsprache. Und es ist wichtig zu wissen, dass Schuldistanz nicht bedeutet, dass hier nur Schulschwänzer oder Verweigerer angeschwemmt werden.

Schuldistanz geht auch mit einem Attest vom Arzt, kann auch entschuldigtes Fehlen sein. Die Distanz zur Schule, sie entsteht nicht allein aus Unlust, einer hartnäckigen Nullbockattitüde.

„Das sind alles ganz normale Jugendliche. Da ist nur bei allen auf dem Weg etwas schiefgelaufen. Etwas, wofür sie selbst nichts können.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Meist sind die Jugendlichen, die hier im ATP betreut werden, in Gruppen von mehr als fünf oder sieben Mitgliedern, schlichtweg nicht beschulbar. Schwänzer gibt es natürlich auch, aber das Schwänzen ist hier nie die Krankheit selbst, es ist nur ein Symptom eines größeren, eines tiefer liegenden Problems. Es sind Unbeschulbare, die zu Schwänzern werden, weil das Konzept Schule für sie keinen Sinn mehr ergibt.

Weil sie sich, Kampfdiagnose: ADHS, nicht länger als 30 Sekunden konzentrieren können. Oder Konflikte nicht anders lösen als mit der Faust. Sie hören nicht zu, sprechen nicht, schreien.

Andere haben bereits mit 15 eine beeindruckende Drogenkarriere hinter sich. Speed, Ecstasy, Kokain, Kiffen sowieso. Und leben in Familien, die in den meisten Fällen allein aus der Mutter bestehen. Einer Mutter, die nicht genügt. Vaterfiguren sind in diesen Lebensläufen selten zu finden.

Kommt alles zusammen, beginnt etwas zu gären. Entsteht ein Gemisch, das, sobald es auf den Brandbeschleuniger der Vollpubertät trifft, explodiert.

Systemsprenger, sagen die Sozialarbeiter im ATP. Und man kann sich ganz gut vorstellen, wie sie in den Trümmern stehen, die sie nun wieder zusammenfügen sollen.

„Schuldistanz führt zu Schulverweigerung und kann mit Schulabbruch enden. Schulabbruch ohne jeden schulischen Abschluss lässt die Chancen auf dem Ausbildungs- bzw. Arbeitsmarkt gegen null tendieren. Damit verliert ein Teil unserer Jugendlichen auf Dauer jede positive Perspektive.“ (Sandra Scheeres, SPD, Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft)

Die Villa steht auf einer leichten Anhöhe. Einige, vor allem Berliner, würden sie wohlwollend einen Hügel nennen. Und es ist, als rollten die Jugendlichen an jedem Morgen einen riesigen Felsbrocken diesen Steglitzer Hügel hinauf, schnaufend, fluchend über das brüchige Pflaster, einen Felsbrocken, den sie anschließend, am frühen Nachmittag, nach fünf Stunden ATP, unter großem Geschrei, fluchend, zeternd und zweifelnd wieder hinunterstoßen.

„Wenn du nur von den Zielen ausgehst, dann ist es natürlich Sisyphos. Aber da passiert trotzdem viel. Nach einem Jahr siehst du, dass sie aufgehört haben, Drogen zu nehmen, dass sie gelernt haben, sich in der Gruppe zu unterhalten, pünktlich sind. Vielleicht kriegen sie ihren Hauptschulabschluss nicht, aber sie haben so viel gelernt. Menschlich kleine Sachen. Das bekommen sie von uns so nebenbei. Nur gibt es dafür kein Zeugnis.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Im Keller in Steglitz ist die Widerrede zu Hause, die Ablehnung. Im Schulraum, dem Raum neben der Küche, zumal. Weil dort gelernt werden soll. Lernen aber, das wollen hier die wenigsten. Maruan nicht, Julien nicht und Nihat schon mal gleich gar nicht. Maruan schreibt SMS, Nihat reißt kippelnd einen Papierbogen in kleine Streifen. Schlägt mit einem Kugelschreiber auf den Tisch. Trommelt einen unregelmäßigen Takt großer Unruhe. Die Körper sind ununterbrochen in Bewegung. Und es ist so laut, wie es nur in Räumen laut ist, in denen jemand Angst vor der Stille hat.

Auf der Tafel: Formeln und Wortfetzen, verwischt, durchgestrichen, weitestgehend unlesbar. Davor drei Jungen und Guido, der Arbeitsblätter austeilt. Heute: Englisch. Länder und Hauptstädte Europas. Die Farben der Flaggen.

Maruan: Alter, Guido, wir lösen hier Aufgaben für Drittklässler. Ich fühle mich von meiner Intelligenz verarscht.

Guido: Denk mal drüber nach.

Julien: Ich will das Alphabet auf Englisch gar nicht können.

Maruan: Ich auch nicht.

Nihat: Alter, das sind Bazinga-Aufgaben. Für Nulltklässler. Kindergarten.

Guido: Eigentlich ist es für die Grundschule. Vierte Klasse.

Julien: Siehste, deshalb habe ich die Grundschule so gehasst. Weil die so eine Scheiße mit uns gemacht haben.

Guido lächelt nur. Was soll er auch sagen? Jede Woche, wie auswendig gelernt, die gleichen Sätze, Ausflüchte, Diskussionen. Er kann sie mal, sie aber können ihm nichts.

„Von der Schule fliegen ist leicht. Zwei Schlägereien und du bist raus“

Immer weiter drehen. Sozialarbeiter Guido beim Kickern mit Jugendlichen.
Immer weiter drehen. Sozialarbeiter Guido beim Kickern mit Jugendlichen.

© Sebastian Dudey

Sie nennen ihn Tarzan. Guido, Sozialarbeiter, 34 Jahre alt. Er, die dunklen Haare zum Pferdeschwanz geknotet, ein Tribal auf dem muskulösen Oberschenkel, ist in Mecklenburg aufgewachsen, dort, wo die Seen an den Himmel stoßen, das Land flach ist und der Mensch wortkarg. Ist dort über flaches Land gerannt, durch die Seen geschwommen. Triathlet. Das, sagt Guido, hat ihn gerettet. Vor so viel Scheiße bewahrt. Vor den Drogen, der falschen Gesinnung.

Deshalb ist er Sozialarbeiter geworden. Um zurückzugeben, was er selbst erfahren hat. Die Unterstützung. Durch den Lehrer, der ihn davon abhielt, die Schule zu schmeißen. Durch den Trainer, der ihn motivierte, jeden Tag, weiterzumachen, den nächsten Schritt zu gehen.

Die Hälfte der Freunde von damals, sagt Guido aus Mecklenburg, war drogenabhängig oder ist an einem Baum zerschellt. Guido aber lief über flaches Land. Weiß deshalb, dass es nicht auf den Sprint ankommt, sondern auf die Distanz. Guido: Marathonmann, Eisenmann. Tarzan. Vielleicht muss man genau das sein, um hier, im Keller in Steglitz, nicht aufzugeben, wenn sich die Ziellinie verschiebt, die Etappen immer länger werden.

ATP bedeutet auch, Niederlagen zu akzeptieren. Und trotzdem die kleinen Erfolge nicht zu vergessen, die es doch immer wieder gibt. Die Beispiele dafür, dass es funktioniert.

Julia ist so ein Beispiel.

Sie ist an diesem Tag später gekommen. Weil sie den Kleinen noch zur Kita gebracht hat. Der Kleine ist eineinhalb Jahre alt und ein Grund dafür, dass Julias Geschichte im ATP wahrscheinlich ein versöhnliches Ende nehmen wird. Julia, junge Mutter, gerade 18 geworden, fällt hier im Schulraum schon deshalb sofort auf, weil sie einfach nur dasitzt, die Augen ganz ruhig. Im Sturm der anderen. Sie ist seit zweieinhalb Jahren im ATP und könnte in diesem Sommer ihren erweiterten Hauptschulabschluss machen. Die erste Prüfung ist in wenigen Tagen. Ihr Beispiel leuchtet.

Julia will Schule machen. Dafür ist sie hier.

Julia will lernen.

Es ist keine drei Jahre her, da wollte Julia: nichts.

„Als ich herkam, war ich kaum anwesend.“ (Julia, 18 Jahre)

Nihat ist jetzt dort, wo auch Julia war. Ganz am Anfang. Er ist der Neue. Nihat boxt. Nihat, das sieht man seinen Augen an, ist ein Kämpfer. Sein Vater stammt aus Nigeria, die Mutter ist Türkin. Nihat kennt seinen Vater nicht. Er trägt einen türkischen Namen. Er spricht kein Türkisch.

Er sieht aus wie ein junger Boxer auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie der 60er Jahre. Ähnelt wohl vor allem dem Vater. Erinnert damit, den feinen Zügen, dem Afro, den er fast immer unter der Basecap versteckt, an den jungen Muhammad Ali. Ein filigranes Großmaul. Nihats Vorbild.

Nihat, sagt Guido, will etwas darstellen. Er will Profiboxer werden. Er will seinen Abschluss schaffen. Entweder Champion oder Fachabitur. Nur: Nihat und Schule, das geht gar nicht.

Die Probleme, sie beginnen in der Grundschule. Nihat schlägt zu. Ich habe viel Scheiße gebaut, sagt er, den Unterricht gestört. Er sagt: Ich lasse mir nichts sagen.

Danach soll Nihat es in einer jener Praxisklassen versuchen, mit denen die Sekundarschulen der Schuldistanz begegnen. Duales Lernen. Zwei Tage Arbeit, drei Tage Schule. Kommt da aber mit dem Meister nicht klar, geht einfach nicht mehr hin.

Er ist, sagen die Sozialarbeiter, sagen die Leute beim Jugendamt, durchaus lernbereit. Aber in einer Klasse, mit der ständigen Ablenkung, wenn schon die Gegenwart der anderen eine Provokation ist, funktioniert er nicht. Ihn nerven Dinge schnell, sagt er. Nihat schlägt zu, Nihat verweigert sich. Nihat fliegt von der Schule. Nihat kommt nach Steglitz.

„Von der Schule fliegen ist ganz leicht. Zwei Schlägereien und du bist raus.“ (Nihat, 15 Jahre)

Julia ist 14 Jahre alt, als ihr der Alltag zu entgleiten beginnt. Der Klassiker. Falsche Freunde. Der erste Joint. Der zweite.

Julia wächst bei Mutter und Großmutter auf. Bilderbuchkindheit, sagt sie. Fotos von damals zeigen ein fröhliches blondes Mädchen im Skiurlaub, zeigen Julia beim Reiten. Die Mutter besitzt zwei Pferde. War mal Rodeoreiterin. Ein Cowgirl, das auf Volksfesten im Sattel blieb. Sie arbeitet beim Bund. Gehobener öffentlicher Dienst. Ist viel unterwegs: Geschäftsreisen. Verliert den Kontakt zur Tochter. Auch das: ein Klassiker.

„Um elf noch anziehen, zur Schule gehen: Das war sinnlos. Da hatte ich keinen Bock drauf.“ (Julia, 18 Jahre)

Und Julia beschließt zu schwänzen. Verschläft am ersten Morgen. Am zweiten. Langsam verändert sich ihr Tagesablauf: Schlafen bis zwölf, fertigmachen, duschen, Make-up, Make-up-Selfie vor dem Spiegel, Sachen auswählen, Garderobe checken, raus, Freunde treffen, abhängen. Im Einkaufscenter, am Brunnen, wo alle hinkommen, die sonst nicht wissen, wohin mit sich. Noch einen rauchen. Um 16 Uhr wieder ins Bett, paar Stunden schlafen. Am Abend dann, natürlich hellwach, wieder raus. Am nächsten Morgen, klar, wieder verschlafen. Der Teufel auf der Schulter tanzt im Kreis.

Julias Leben gerät aus dem Rhythmus. Noch aber bemerkt das niemand.

Wenn der Dienstag gut läuft, heißt das nicht, dass der Mittwoch gut wird

Zahlen, Daten, Akten. Ordner im Sozialarbeiter- Büro in der ATP-Villa in Steglitz.
Zahlen, Daten, Akten. Ordner im Sozialarbeiter- Büro in der ATP-Villa in Steglitz.

© Sebastian Dudey

„Die letzten zwei Tage sind gut gelaufen.“ - „Mach dir keine Hoffnungen, es kommen noch drei.“ (Guido und Maruan)

Zwischen null und sieben Jugendliche. Alles ist möglich. Normal? Was ist schon normal? Mittwoch ist wie Montag. Nur ganz anders. Der Mittwoch ist unberechenbar. Wenn der Dienstag gut gelaufen ist, heißt das nicht, dass der Mittwoch gut wird. Es heißt nur, dass der Dienstag gut war. Man kann daraus nichts ableiten. Prognosen sind unmöglich. Am Dienstag hat sich Maruan mit Sandra gestritten. Eskalation. Tränen. Und Julien ist zu seinem Vater gefahren. Was mit den anderen ist: Woher soll Guido das wissen? Es ist Mittwoch. Neun Uhr. Und Nihat ist der Einzige im ATP.

Nihat: Ist keiner hier?

Guido: Ist doch erst neune.

Nihat: Was soll das, wo sind die ganzen Wichser?

Guido: Du meinst deine Arbeitskollegen?

Nihat: Ja, die Wichser. Ich bin immer pünktlich.

Er hat noch immer den Rucksack nicht abgenommen. Noch immer die Jacke nicht ausgezogen.

Heute ist Arbeitstag. Ein, zwei Mal in der Woche erledigt Guido mit den Jugendlichen kleinere Aufträge. Umzüge, Entrümpelungen. Das soll ihnen dabei helfen, sich an den späteren Arbeitsalltag zu gewöhnen. Pünktlichkeit, Verantwortung. Dinge zu Ende bringen.

Gut ist es, wenn sie dabei in der Gruppe arbeiten, das stärkt dann gleich noch den Zusammenhalt. Jetzt aber ist Nihat der Einzige im ATP. Und Guido weiß, lange genug ist er dabei: Dann muss es halt so gehen. Heute sollen sie Sperrmüll zur BSR fahren. Danach einen Tisch und sechs Stühle in eine betreute Wohngemeinschaft in der Nähe bringen. Erster Stock. Kleiner Umzug.

Nihat und Guido stehen in einem dunklen Arbeitsraum mit Werkbank und Metallschränken. Die Werkbank ist mit Sägespänen überzogen. An Tagen, die besser funktionieren, Donnerstage meist, aber auch das ist nicht sicher, arbeiten sie hier. Schleifen. Holz. Schleifen. An ihren Biografien. Guido greift in einen der Schränke. Arbeitskleidung für Nihat. Eine Hose in Marineblau, Stiefel, die Kappen aus Stahl. Nihat sagt: Nein.

Guido: Wie, nein?

Nihat: Ich ziehe das nicht an. Voll hässlich.

Guido: Ich muss dafür sorgen, dass du Arbeitsklamotten trägst.

Nihat: Das sieht aber scheiße aus.

Guido: Na und, ich muss das auch tragen. Wenn dir was passiert, dann haben wir ein Problem.

Nihat: Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass mich damit einer sieht, der mich kennt.

Nihat, 15 Jahre alt, ist ein Junge, dessen Körper das Erwachsenwerden gerade in die Länge zieht. Ein Junge, der das Weiche in seinen Zügen mit der Härte in seiner Sprache bekämpft und dann selbst lachen muss, wenn er sich der Albernheit dieses Versuchs bewusst wird. Weil man ihm sehr wohl den Kämpfer abnimmt, nicht aber den Proll. Noch versteckt er sich dahinter. Hinter den Worten. Worte wie Patronen, von denen am Ende nur Hülsen bleiben. In einem Keller in Steglitz. Dann holt Guido, seelenruhig, den Besen und kehrt sie zusammen. Und Nihat streift sich die marineblaue Hose über die Jeans.

„Man darf nie nachlassen, keine Schwäche zeigen. Sobald sie das spüren, verlierst du sie, wie ein Rudel junger Hunde.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Ende 2010, Julia besucht jetzt die achte Klasse, ist die Fahrt zur Schule eher Ausnahme als Selbstverständlichkeit. Hingehen oder zu Hause bleiben? Ein Münzwurf. Auf den Kopf gefallen.

Und ihre Mutter, unterwegs in gutem Glauben, weiß von nichts. Wie auch, sagt Julia, die hatten ja nichts von ihr. Im Sekretariat gibt sie ihre eigene Handynummer an, fälscht die Unterschrift der Mutter. Wenn die Schule anruft, lässt sie es klingeln, geht nicht ran. Die Briefe fängt sie ab. Zieht das durch, mehr als ein halbes Jahr. 184 Fehltage.

Bis sie auffliegt. An einem Nachmittag klingelt ihr Handy, unbekannte Nummer. Sie geht ran. Julia, hallo. Am anderen Ende: der Direktor. Möchte die Mutter sprechen, die von alledem nichts weiß. Da endet der Schwindel. Erst mal. Konferenzen und Lehrergespräche.

Julias Mutter macht sich Vorwürfe, gibt sich an allem die Schuld, verspricht: Es wird wieder. Wechselt den Arbeitsplatz, um wieder näher dran sein zu können. Und fährt ihre Tochter jeden Morgen zur Schule. Bringt sie zur Tür, wartet, bis Julia dahinter verschwindet.

Julia bleibt zwei Stunden und geht wieder nach Hause. Weil sie müde ist. Schlafen will.

Es wird nicht wieder. Es geht nicht weiter. Und Julia, aus dem Rhythmus, kann nicht mehr schlafen.

Noch immer hat er den Rucksack nicht abgenommen

„Es gab auch nichts, das interessanter oder besser gewesen wäre, als zur Schule zu gehen. Es war reine Faulheit, reine Dummheit.“ (Julia, 18 Jahre)

Nihat lehnt in einem Westberliner Altbauflur. Sagt: Voll die Scheiße hier. Alles. Das Wetter, die Hitze. Die Fahrt zum Müllplatz, auf dem es so eklig gestunken hat. Und vor allem: das ATP. Die anderen. Die Wichser, die nicht gekommen sind. Die ihn hier allein gelassen haben. Mit dieser Hose, einer Demütigung in Marineblau.

„Ich kann ihn da auch verstehen, aber dafür, dass er allein ist, arbeitet er immer noch gut mit. Er hätte sich ja auch verpissen können. Aber er ist immer noch hier.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Seit einigen Minuten versucht Nihat nun schon, einen Tisch durch die Flügeltür der Wohnung zu stemmen. Passt nicht.

Da hilft es ihm auch nicht, dass er Boxer ist, sagt eine Frau, die hier wohl zuständig ist. Nihat drückt ihr einen Blick, lehnt sich wieder an die Wand. Die Frau sagt: Oh, jetzt boxt er mich gleich. Nihat sagt wieder: nichts. So macht er das. Nihat hält Distanz. Kämpft aus der sicheren Deckung des geübten Boxers. Hält sich das alles vom Leib. Bringt eine Armlänge zwischen sich und die anderen. Nur ist nicht klar, wer in diesem Kampf der Gegner ist. Die Schule, die Sozialarbeiter, oder am Ende doch er selbst. Dann wäre es der schwerste Kampf von allen.

Noch immer hat er den Rucksack nicht abgenommen. Noch immer die Jacke nicht ausgezogen.

Er trägt diesen Rucksack wie einen Fallschirm. Jederzeit absprungbereit. Als Muhammad Ali, von großer Flugangst geplagt, 1960 zu den Olympischen Spielen nach Rom flog, trug er als einziger Passagier einen Armeefallschirm. Er hatte ihn sich zuvor persönlich gekauft.

Ali, der Boxer, hatte fürchterliche Angst vorm Fliegen. Angst davor, nicht anzukommen.

Nihat, der Boxer, trägt seinen Fallschirm aus Angst davor, anzukommen.

„Ich freue mich darauf, wenn er das erste Mal zuschlägt. Wenn er seine Deckung aufmacht. Wenn er richtig aggressiv wird, die Schnauze voll hat und mir seine Meinung sagt. Ich gebe ihm noch fünf Wochen, dann haben wir unseren ersten großen Streit. Und dann beginnt meine eigentliche Arbeit.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Am Ende der achten Klasse leidet Julia, 184 Fehltage, 15 Jahre alt nun, an Schlafstörungen. Das Kiffen, sagt sie. Julias Mutter leidet an Hilflosigkeit. Die Schule lädt sie zur letzten großen Konferenz. Mit dem Direktor, dem Schulsozialdienst und der Schulpsychologin, der Familienhilfe und dem Jugendamt. Das All-inclusive-Paket. Viel mehr geht nicht.

Julia, das sagt die Konferenz, hat nun drei Möglichkeiten.

Sie geht zurück zur Schule. Für sie unmöglich.

Sie bekommt eine Schulversäumnisanzeige. Eine hohe Geldstrafe. Für ihre Mutter unmöglich.

Sie lässt sich behandeln. In einer Klinik.

Also geht Julia in die Klinik. Ärzte statt Lehrer. Fünf Monate lang. Geregelter Tagesablauf. Aufstehen, Frühstück, Morgenrunde. Danach Schule, auch schon in einem Keller. Pause. Hoch zum Mittagessen, wieder runter zur Schule. Ausgang zwischen 15 und 18 Uhr. Dann Abendbrot. Fernsehen bis 21 Uhr. Licht aus um 21 Uhr 30. Keine Widerrede, keine Diskussionen. Vor dem Schlafen bekommt Julia Tabletten. Aripiprazol. 5 mg. Verwendet zur Behandlung von Schizophrenie und mäßigen bis schweren manischen Phasen einer bipolaren Störung. Handelsname: Abilify.

Es soll gegen die Schlafstörungen, die Ängste helfen. Julia hat aufgehört zu kiffen. Das Medikament holt sie runter. Sie kommt wieder klar. Steht auf, lernt. Der Tagesablauf: geregelt. Die Gefühle: auch.

Nach fünf Monaten wird sie aus der Klinik entlassen. Zurück in die Schule geht sie nicht. Das geht noch nicht. Julia geht nach Steglitz. Arbeitstrainingsprogramm, um den Alltag nicht wieder zu verlernen. Um weiterzulernen.

„Ziel ist, dass sie den Loser-Stempel loswerden. Das Image der Kaputten. Sie sind keine Kriminellen.“ (Rouven Reschop, Koordinator ATP)

Jetzt sitzt sie, ein anderer Tag, im Büro des ATP und löst Testaufgaben, füllt Arbeitsbögen aus. Deutsch. Das letzte Mal vor der Prüfung. Subjekt, Prädikat, Objekt. Immer wieder. Was ist ein Hauptsatz? Was ist ein Nebensatz? Hat sie schon Dutzende Male gemacht. Julia, im Flur das Schreien der Verweigerung, trägt Kopfhörer. Muss sich konzentrieren. Ein letztes Mal vor der Prüfung. Sie kann das jetzt, sie hat ein gutes Gefühl. Sie muss es schaffen, sie hat keine andere Wahl. Sie macht das ja auch für den Kleinen.

„Das Umdenken hat angefangen, als ich mitbekommen habe, dass ich schwanger bin.“ (Julia, 18 Jahre)

Als sie gerade angekommen ist im ATP, wird Julia schwanger. Mit 16. Sie merkt das spät, im siebten Monat erst. Beim Orthopäden, zu dem sie gegangen ist, weil sie Rückenschmerzen hat.

Sie bekommt das Kind, geht ein Jahr in Mutterschutz und versöhnt sich mit ihrer Mutter, weil sie nun selbst eine ist.

Der Kleine verändert alles. Als sie nach diesem Jahr zurückkommt, weiß sie, dass es nicht mehr anders geht. Sie braucht ihren Abschluss. Weil der nur ein Anfang sein soll. Danach will sie auf ein OSZ gehen, erst den Realschulabschluss schaffen, dann das Fachabi.

Vorbilder und Ziele, sagen sie im ATP, sind das Wichtigste. Julia möchte nun werden wie ihre Mutter. Die Pferde haben sie immer noch.

"Wenn sie sich mal für etwas interessieren, musst du reagieren"

Während Julia lernt, sind Guido, Maruan und Nihat im grünen VW-Bus des ATP unterwegs auf der Stadtautobahn. Der Auspuff scheppert, die Tür schließt nicht richtig. So ein kaputter VW-Bus, sagt Guido, passt doch ganz gut zur Sozialarbeit. Er hat seine Macken. Bleibt auch mal liegen. Aber immerhin: Er hat Tüv. Er funktioniert.

Im Radio läuft Star FM. Rockmusik. Maruan steht auf AC/DC. Nihat ist das egal. Hinten auf der Ladefläche: Elektroschrott, Boxenkabel, Mischpult, haste nicht gesehen, den sie in Reinickendorf abgeholt haben. Sie müssten jetzt eigentlich zu ihrem zweiten Auftrag.

Doch dann sieht Nihat das Flugzeug. Hört auch Maruan das Dröhnen der Turbinen. Eine Boeing im Landeanflug auf Tegel. So nah, so dicht über ihnen, dass man das Gefühl hat, die Tragflächen berühren zu können. Staunen im Bully. Was ist das, Guido? Stürzen die ab, Guido?

„Wenn solche Situationen kommen, musst du das mitnehmen. Wenn sie sich überhaupt mal für etwas interessieren, was auch nur zweimal im Jahr vorkommt. Dann musst du reagieren. Scheiß drauf. Das war eine perfekte Situation.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Das kennen sie nicht. Das haben sie so noch nie gesehen. Nihat ist das letzte Mal mit elf im Urlaub gewesen. Er will jetzt wissen, was da los ist.

Und Guido weiß: Er muss reagieren. Große Sozialarbeiterchance. Also telefoniert er kurz, sagt den zweiten Auftrag ab, fährt an der nächstmöglichen Ausfahrt von der Autobahn und parkt den VW-Bus auf einem Seitenstreifen. Neben der Fahrbahn ein Hügel.

Dort stehen sie. Und schauen Flugzeuge. Starten und landen. Hören den Schall der Turbinen. Stehen unter den Maschinen, so nah, dass man nun auch glaubt, die Gesichter der Reisenden erkennen zu können. Stehen auf einem grünen Streifen, gegenüber der Zaun, hinter dem sich die Landebahnen erstrecken, die Luft im Flimmern der Mittagshitze zerläuft, die Schleppwinde der Maschinen das Fernweh aufwirbeln. Fasziniert wie Kinder.

Die Neugier bricht die Coolness auf.

Wie funktioniert das?
Was ist das für ein Geräusch? Eine U-Bahn?
Woher kommen die?
Boah, Alter, wieso so dicht?
Wo fliegen die hin?
Ich will auch mal in den Urlaub.
Guck mal, Nihat, noch einer.
Wie groß sind die Reifen?
Kannst du mal bitte meine Jacke halten,
ich möchte das filmen.

Maruan fängt das nächste Flugzeug mit dem iPhone ein. Und Nihat streift seinen Rucksack ab, zieht seinen Pullover aus. Schaut, aus den Ärmeln des T-Shirts die Arme ganz locker, den Flugzeugen zu. Vergisst für einen Moment seine Deckung.

Auf dem Rückweg: lachen, die Größe der Flugzeuge mit den Händen übertreiben. Danach in den Ein-Euro-Laden. Fotos mit Cowboyhüten. Wieder Lachanfall. Voll lustig, voll gut. Beide super drauf. Maruan und Nihat, zwei ganz normale Jungs. Zurück im Keller in Steglitz schreiben sie in ihre Arbeitsnachweise: Flugzeuge geguckt. Cowboyhüte aufgesetzt. Und Guido nickt. War schließlich genau richtig so.

„Das ist im Grunde die längste und irrste Klassenfahrt, die man sich vorstellen kann. Das ist hier wie bei ,Adams Äpfel‘. Kennst du diesen dänischen Film, wo der Priester mit diesem Verrückten, dem Araber und dem Nazi unterwegs ist? Daran denke ich immer. Denn am Ende hat der Priester die Verrückten doch alle zusammengehalten. Und das ist mein Job.“ (Guido, Sozialarbeiter)

Tags darauf steht Julia vor einem alten Backsteingebäude in Moabit. Kurz vor der ersten Prüfung. Noch zehn Minuten. Noch eine Zigarette. In der Tasche den Duden. In der Hand einen Marienkäfer aus Schokolade und eine Packung Traubenzucker. Glück und Energie. Braucht sie, weiß sie, ist jetzt doch aufgeregt. Zieht an ihrer Zigarette. Erste Prüfung: Deutsch. Duden in der Tasche. Sie hat drei Stunden Zeit. Sie tritt durch das Tor. Ein erster Schritt.

Irgendwo hinter dieser Mauer, in einem der Räume, liegt eine Zukunft, die vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Der Abschluss.

Sie biegt auf die Zielgerade ein. Langsam. Schritt für Schritt.

Ein Marathon. Kein Sprint.

Julia macht Schule.

Guido geht laufen.

Nihat geht boxen.

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