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Noch ’ne Runde. Während die Radsportler sich im Velodrom abmühen, wird in den Rängen gerechnet und im Innenraum gesoffen.

© Camera 4

Sechstagerennen im Velodrom: Mehr Show und Vergnügen als früher

Beim Sechstagerennen im Velodrom wird hart gearbeitet – auf der Bahn und an der Theke. Man trifft Promis, Zapf-Profis und auch erstaunlich viele echte Radsport-Fans. Wir sind eine Nacht mitgefahren.

Kurz vor Mitternacht muss Marco Thäle zurück hinter die Theke. „Paar Frischlinge einarbeiten, verstehste“, aber mit dem Verstehen ist das so eine Sache um kurz vor Mitternacht. Frischlinge – das könnten ein paar neue Zapfer sein, noch nicht ganz so erfahren wie Marco, der den Job beim Berliner Sechstagerennen nun schon so lange macht, wie Fahrer hier am Velodrom an der Landsberger Allee ihre Runden drehen, also seit 17 Jahren. Frischlinge wäre aber auch ein schönes Wort für die frischen und kühlen und goldgelb schäumenden Biere, an denen sich Marco Thäle mit der gleichen Hingabe abarbeitet, wie die Kunden sie hinunterstürzen.

Sechstagerennen sind harte Arbeit. Auf der Bahn und auf beiden Seiten der Theke. Das ist im Jahr 2014 so, wie es 1919 war, als Egon Erwin Kisch das Berliner Sechstagerennen besuchte. Wo heute das Velodrom steht, befand sich damals der Zentrale Vieh- und Schlachthof Berlins. Die Fahrer drehten ihre Runden im Sportpalast an der Potsdamer Straße und Sechstagerennen waren noch, was ihr Name versprach. „Sechs Tage und sechs Nächte drücken 13 Paar Beine auf die Pedale“, notierte Kisch, „das rechte Bein aufs rechte Pedal, das linke Bein aufs linke Pedal, sind 13 Rücken abwärts gebogen, während der Kopf ununterbrochen nickt, einmal nach rechts, einmal nach links, je nachdem welcher Fuß gerade tritt, und 13 Paar Hände tun nichts, als die Lenkstange halten. Ihre 13 Partner liegen inzwischen erschöpft in unterirdischen Boxen und werden massiert. Sechs Tage und sechs Nächte.“

Immer wieder Zeit und Gelegenheit für ein Bier

Das Prinzip der sechs Tage und sechs Nächte gilt lange nicht mehr. Sechstagerennen der Neuzeit beginnen am frühen Abend und enden spät in der Nacht, dazu werden sie alle Naselang unterbrochen. Mal für einen Steher-Wettbewerb, dann für ein Oldierennen, gern auch für Musikeinlagen. Und immer wieder findet sich Zeit und Gelegenheit für ein Bier. Die Gefahr, etwas Wesentliches zu verpassen, ist überschaubar. Das aber bedeutet nicht, dass so ein Sechstagerennen eine reine Saufveranstaltung ist. Die Arbeit auf der sibirischen Fichte ist ernst, und sie wird auch gewürdigt. Es gibt nämlich auch noch die richtigen Radsportfans.

Die richtigen Radsportfans taumeln nicht durch den Innenraum und sie stehen auch nicht an den Imbissständen. Die richtigen Radsportfans sitzen oben auf den Tribünen und verlassen ihren Platz nur, wenn sie mal aufs Klo müssen, und dann auch nur in den Pausen, wenn überhaupt. Die richtigen Radsportfans haben Klemmbretter mitgebracht und schreiben mit. Wer als unbedarfter Freund des Amüsements zum Sechstagerennen kommt, wundert sich bei einem Blick auf die Tribünen, wie viele richtige Radsportfans es gibt.

Bis zum Dienstag werden sie beim 103. Berliner Sechstagerennen noch Zahlenkolonnen auf ihre Klemmbretter kritzeln und fachsimpeln über ihre Helden, die unten ihre Runden drehen. Sechs Tage lang, wie immer seit der Erfindung der Sechstagerennens, und eben doch ganz anders als 1919, als Egon Erwin Kisch bilanzierte: „Gleichmäßig dreht sich die Erde, um von der Sonne Licht zu empfangen, gleichmäßig dreht sich der Mond, um der Erde Nachtlicht zu sein, gleichmäßig drehen sich die Räder, um Werte zu schaffen – nur der Mensch dreht sich sinnlos in seiner willkürlichen Ekliptik, um nichts, sechs Tage und sechs Nächte lang.“

Sven Felski schaut vorbei, großes Hallo, der Mann ist ein Idol im Osten Berlins. Seitdem Felski im Status eines ehemaligen Eishockeyspielers steht, muss er seinen Durst nicht mehr ausschließlich mit Apfelschorle oder isotonischen Getränken löschen. Felski kommt gerade vom Ostbahnhof, aus einem anderen dieser modernen Vergnügungstempel, die sich das Nach-Wende-Berlin gegönnt hat. Seine Eisbären haben gegen Hamburg verloren, es lief schon mal besser als in dieser Saison, da kann ein bisschen Ablenkung nicht schaden. Felski gibt eine Bestellung ab und zieht weiter.

Sechstagerennen sind heute mehr Show und Vergnügen als früher

Die Lange Nacht von Freitag auf Samstag hat Tradition im Velodrom. Gut 12 000 Gäste sind da; sie essen und trinken und manchmal schauen sie auch den Radfahrern zu, die schon seit dem frühen Abend um das Oval kurven. Robert Förstemann, der Thüringer mit den Elefantenoberschenkeln, schafft in der Sprintwertung einen Streckenrekord. Die Menge johlt und wippt im Takt der Musik einer so genannten „Arena-Band“, sie trägt den seltsamen Namen „Rachel against the Machine“. Für den Montag hat sich, wie immer, Frank Zander angesagt.

Sechstagerennen sind heute mehr Show und Vergnügen als früher, aber auf der Bahn kämpfen die Fahrer immer noch den harten Kampf gegen sich selbst. Heute im Velodrom wie damals im Sportpalast. „Hier erzeugen sich zweimal 13 Opfer den Mahlstrom selbst, auf dem sie in den Orkus fahren“, schrieb Kisch in der „Weltbühne“. „Ein Inquisitor, der solche Tortur, etwa elliptische Tretmühle benamst, ausgeheckt hätte, wäre im finstersten Mittelalter selbst aufs Rad geflochten worden! Aber im zwanzigsten Jahrhundert muß es Sechstagerennen geben.“

Ja, und es gibt sie noch immer, ein Jahrhundert später. Die Marter ist ein wenig erträglicher, aber weiterhin allgegenwärtig. Ebenso wie der Lärm in der Halle. Immerhin, bei den einer modernen Gesundheitspolitik verpflichteten Sechstagerennen der Neuzeit gibt es keine qualmenden Zuschauer mehr, sie müssen sich mit dem Laster des Saufens begnügen, aber weil das passive Mitsaufen noch nicht erfunden ist, können die Fahrer ganz gut damit leben.

Es geht, wie im richtigen Leben, vor allem ums Geld

Dafür müssen sie mittlerweile gut im Kopfrechnen sein. Zu Kischs Zeiten gewann die Mannschaft, die an sechs Tagen die meisten Kilometer zurückgelegt hatte. Aber die Welt ist komplizierter geworden und mit ihnen die Sechstagerennen. Man kann sich das ungefähr so vorstellen wie einen Kindergeburtstag, für den sich die Eltern viele schöne Spiele ausgedacht haben. Diese Spiele heißen Jagd, Wertungssprint, Derny oder Mannschaftsausscheidungsfahren.

Zur Belohnung werden nach jedem dieser Spiele Punkte verteilt, und wer am Ende die meisten Punkte hat, darf eine Ehrenrunde mit Siegerkranz drehen. Weil das alles ein bisschen kompliziert und unübersichtlich ist, bleibt so ein Sechstagerennen spannend bis zum letzten Tag (was ja aus wirtschaftlicher Sicht nicht ganz unwichtig ist). Sechstagerennen laufen meist nach folgendem Muster: Die Führung wechselt immer hin und her, die Entscheidung fällt erst in der letzten Jagd der letzten Nacht, und nicht selten gewinnen dann die Publikumslieblinge.

Zweifel am sportlichen Wert der Sechstagerennen sind wohl nicht von der Hand zu weisen. Es geht, wie im richtigen Leben, vor allem ums Geld, und deswegen ist es natürlich unerlässlich, dass alle paar Minuten die Namen von Sponsoren über die Lautsprecher herausgeblasen werden. Früher waren die Ansagen, nun ja, brisanter. Kisch war 1919 schwer beeindruckt vom Schicksal eines Zuschauers vom Prenzlauer Berg, dem das Radsportvergnügen über alles ging. Am dritten Renntag verkündete damals der Sprecher durchs Megafon: „Herr Wilhelm Hahnke, Schönhauser Straße 139, soll nach Hause kommen, seine Frau ist gestorben!“

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