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Berlin: Sechstagerennen: Pfeifen nur nach Aufforderung Radler angucken oder Tanzen gehen?

Die Eröffnung ist nicht so wichtig beim Sechstagerennen. Wer zu spät kommt, verpasst nicht viel.

Die Eröffnung ist nicht so wichtig beim Sechstagerennen. Wer zu spät kommt, verpasst nicht viel. Als der Schauspieler Heinz Höger und Sportsenator Klaus Böger den Startschuss abfeuern, tut sich gar nichts. Es stehen sowieso viel zu viele Fotografen und Kameraleute im Weg. Erst nach einer halben Minute ist die Bahn endlich frei. Und auch dann geht es erst mal ruhig zu: einfahren. Langsam drehen die Männer auf den High-Tech-Rädern ihre Runden. Jetzt, kurz nach acht, ist fast die Hälfte der Tribünenplätze noch leer. Der Moderator bemüht sich redlich, aber noch schreit, klatscht und pfeift das Publikum nur auf besondere Aufforderung.

Im Block 1, in der zweiten Reihe kurz hinter der Bande, sitzt Bruno Sommer. Ende fünfzig, Jeans, graue Jacke. Schon seit halb acht ist er hier - da war die Halle noch dunkel und die meisten Zuschauer versorgten sich auf den Gängen rundum mit Bratwurst und Bier. Vornübergebeugt sitzt Sommer da, die Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, und verzieht keine Miene. Konzentriert verfolgt er die Fahrer auf der Bahn, zwischen seinen Füßen hat er ein Fernglas abgestellt. Schon seit den fünfziger Jahren geht er jedes Jahr zu den Sechstagerennen, früher in die Seelenbinderhalle und seit vier Jahren ins neue Velodrom.

Nach der Eröffnung dauert es noch eine Stunde, bis die Halle voll ist. Erst um neun sind alle Plätze besetzt, die Stimmung wird aufgeheizter. Wenn die Glocke zu den Wertungsrunden läutet, schreit und klatscht das Publikum und übertönt die Musik. Spannend ist es, wenn sich das Feld zusammenzieht und wieder auffächert, wenn die Räder zum Greifen nahe hinter der Bande vorbeiflitzen, wenn gegen Ende eines Rennens zwei oder drei Fahrer ausreißen. Und schön anzusehen. Zur Ehrenrunde spielt die Band den Sportpalastwalzer, bei dem die Zuschauer ihre vier Pfiffe abgeben müssen. An diejenigen, die nicht auf den Fingern pfeifen können, lassen Schultheiss, Obi und die BVG von Mädchen in Radlerhosen Trillerpfeifen verteilen.

Sommer jubelt nicht. Er ist wegen des Sports her und nicht zum Feiern. Er schafft es sogar, nicht mit den Füßen im Takt der Musik zu wippen. Wenn zwei Fahrer um den ersten Platz kämpfen, beißt er die Zähne zusammen oder bläst die Backen auf, mehr Regungen zeigt er nicht. Trotzdem scheint es ihm gut zu gefallen. Ab und zu gibt er Kommentare ab, die den Insider erkennen lassen: "Der wiegt 104 Kilo", oder "Den nennen sie den Kurzen".

Neben dem Haupteingang liegt die Showhalle. Die Band auf der Bühne spielt italienische Schlager, der ganze Raum ist mit roten Vorhängen abgehängt, auf die das Word "Dance" projiziert wird. Aber um halb zehn will niemand tanzen. Wer reinkommt, schaut sich kurz um und geht wieder.

Manuela und Birgit, beide Mitte Dreißig und gut gelaunt, trinken erstmal ein Bier am Schultheiss-Stand. Die beiden sind gerade angekommen, von den Rennen haben sie noch gar nichts gesehen. Sie sind hier, um zu feiern. "Letztes Jahr habe ich bis um drei getanzt", erzählt Manuela. Wer auf der Bahn seine Runden dreht, und wie die Regeln funktionieren, wissen sie nicht, aber das ist auch egal.

Ohne die Radfahrer würde es trotzdem nicht gehen: "Dann könnten wir ja gleich in die Disko gehen", sagen sie. Erst ein bisschen dem Rennen zuschauen, klatschen, anfeuern, winken, und dann die Nacht durchtanzen, das ist für sie das Sechstagerennen. Nächstes Jahr wollen sie mit allen Kollegen herkommen, statt Weihnachtsfeier.

Zurück in der Halle. Hier muss sich der Moderator inzwischen gar nicht mehr bemühen, das Publikum jubelt, schreit, winkt und pfeift Ohren betäubend und mitreißend. Nur Bruno Sommer scheint sich nicht bewegt zu haben. Er sitzt immer noch in der gleichen Haltung am gleichen Platz und verfolgt das Geschehen auf der Bahn. Aber er lacht jetzt manchmal, wenn ein Fahrer sich besonders geschickt an die Spitze bringt, und er erzählt von früher: "Der Glöckner mit der Glatze da unten war in der Seelenbinderhalle auch schon immer dabei."

Gegen halb zwölf wird es leerer auf den Rängen. Dafür ist jetzt die Showhalle so voll, dass man kaum mehr hineinkommt. Frank Zander hat die Italiener von der Bühne verdrängt und fordert zum Ententanz auf. Es funktioniert. Schon bei den ersten Takten fangen die Leute auf der Tanzfläche an, wild mit den angewinkelten Armen zu rudern. Eine blondierte Mittfünfzigerin schlägt ihrem Nachbarn dabei die Biergläser aus der Hand. Hier werden sie noch bis zum Morgen tanzen, auch wenn die Rennen in einer guten Stunde vorbei sind.

Bruno Sommer aber sitzt immer noch auf seinem Platz in Block 1. Er bleibt dort, bis um ein Uhr nachts der letzte Sieger feststeht.

Axel Krämer

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